K ulturwissenschaftliches Institut für Europaforschung




Wind of Change für den "Tag der Deutschen Einheit"

Die erste Generation, die ohne die Berliner Mauer aufwachsen durfte, wird dieses Jahr volljährig und in drei Jahren erwachsen. Die deutsch-deutsche Gesellschaft wird es voraussichtlich mit dem Erwachsenwerden im Hinblick auf die Ereignisse vor und hinter der Berliner Mauer nicht so schnell schaffen. Auch wenn sie es nicht wahrhaben will, steckt sie doch weiterhin mitten im Prozess der Selbsterkennung und tut sich immer noch schwer mit einer umfassenden Reflexion ihres Zustandes und der Distanzierung von Befindlichkeiten. Anstatt entschlossen zu handeln – und somit beispielsweise ein längst fälliges NPD-Verbot zu bewirken – wird das jeweilige Andere immer noch gern seiner Unzulänglichkeit bezichtigt.
Es ist zugleich belustigend und traurig-ernst, dass 17 Jahre nach der deutschen Einheit in einer überregionalen deutschen Tageszeitung festgestellt wird, dass es an Leuten mangelt, „die dem in der DDR so gründlich proletarisierten Osten Bürgerlichkeit, Christlichkeit zurückbringen können.“ (F.A.Z, 25. August 2007, Nr. 197, S. 1) Sicherlich ist es keine präzise Art und Weise, einzelne Sätze ihrem Kontext zu entnehmen. Doch kann ein weiteres und letztes Beispiel aus der gleichen Zeitungsausgabe darauf hinweisen, dass in Sachen Reflexion des Zustandes der deutsch-deutschen Gesellschaft noch einiges zu tun ist. Für die im Vergleich zu westdeutschen Altersgenossen höhere Gewaltbereitschaft ostdeutscher Jugendlicher wird eine gewöhnungsbedürftige Begründung geliefert: „Gerade weil viele ostdeutsche Jugendliche über stabile familiäre Bindungen verfügen, verschonen sie Eltern aus kindlicher Loyalität und richten ihre Gewalt gegen Fremde.“ (F.A.Z, 25. August 2007, Nr. 197, S. 8) Aber immerhin ist es löblich, dass sich die mediale Aufmerksamkeit westlich der Elbe in östliche Himmelsrichtung bewegt, auch wenn als Aufmerksamkeitsmagnet leider meist nur Rechtsextremismus und Jugendgewalt funktioniert. Aber glücklicherweise gibt es den „Tag der Deutschen Einheit“. Obwohl es an diesem Tag eigentlich um die Einheit gehen sollte, etablierte er sich zumindest in den Medien als Tag des Sinnierens über den Osten, an dem die über das Jahr versäumte Aufmerksamkeit schnell wieder nachgeholt werden kann. Doch leider scheint am Tag der Inspektion Windstille zu herrschen, da die Luftbewegungen, die das östliche und westliche Sediment längst zu einem neuen verwirbelt haben, nicht wahrgenommen werden. Da man, wie es die beiden F.A.Z.-Zitate andeuten, mit dieser neuen und dazu noch in Bewegung befindlichen Sedimentsschicht nicht so recht etwas anfangen kann, wird auf Tiefenbohrung gesetzt, um möglichst ein Musterstück prä-marktwirtschaftlicher Zeiten zutage zu befördern. Aber für die Tiefenbohrung und deren Analyse ist ein Tag nunmal viel zu kurz, vor allem wenn es um die Vergangenheit geht, in der Täter- und Opferwirklichkeiten entstanden. Egal!
Wie eine solche hastige Inspektion verläuft, konnte am Sonntag vor dem 3. Oktober in Anne Wills Polittalk verfolgt werden. Die junge Generation, die sich nicht mehr eindeutig auf „Ost“ und „West“ festschreiben ließ, sondern ein nahezu 1:1-Gemisch aus beiden darstellt, wurde vorsorglich auf der Couch am Rande der Talkrunde deplatziert. Antworten durften die Töchter der „wahren Frau vom Checkpoint Charlie“ weitgehend nur auf Fragen, die eindeutig auf ihre Kindheit in der DDR abzielten. Ihrem Kindergesicht längst entwachsen schienen sie jedoch genau aufgrund der Jahre des Wachstums zu irritieren, die sie weder auf den Boden der DDR noch auf den der alten BRD festschreiben ließen. Also ab an den Rand, um nicht die Formation des Talkkreises zu verzerren, die sich aus wohlbekannten Rollen zusammensetzte und von Anfang bis Ende der Sendung schön rund blieb. Eine starke Vorliebe für Windstille zeigte sich auch in der Vorstellung des Wandels gesellschaftlicher Regime, die von allen Talkgästen anscheinend geteilt wurde. In der Sendung tat sich wie in einem Geschichtsbuch mit undurchlässigen Blättern hinter den Repressionen der dunklen DDR Vergangenheit eine neue Seite, eine Epoche der Freiheit auf. Dabei sind die Blätter an so manchen Stellen transparent. Sollte doch an die zahlreiche Häftlinge erinnert werden, die in der gegenwärtigen BRD aufgrund ihres Wunsches, in der Freiheit zu leben, in Gefängnissen einsitzen. Finden sich doch „Abschiebehäftlinge“ häufig genau hinter den Mauern wieder (z.B. Justizvollzugsanstalt Bützow als größtes Gefängnis in Mecklenburg Vorpommern), hinter denen vor 1989 „politische Häftlinge“ aufgrund des gleichen Freiheitswunsches saßen.
Vor der nächsten Inspektion sollte die Windstärke im wiedervereinten Deutschland, die allemal nicht bei 0 liegt, angegeben werden, um sich besser auf den 3.10. und seine noch vor uns liegenden Herausforderungen einstellen zu können.

Marlene Heidel (16.10.2007)         

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Warten bis die Amerikaner kommen! Zu Nemescus "California dreamin´"

Ein Eisenbahnzug voll mit US-Soldaten und Ausrüstung, der Rumänien Richtung Serbien durchquert. Die Zugfahrt endet an einem Dorfbahnhof wegen fehlender Zollpapiere. Es ist Kosovokrise. Doch der Film geht tiefer, er durchmisst die ganze Tragik des rumänischen Lebens und den Zusammenprall der amerikanischen mit der osteuropäischen Kultur. Was passiert, wenn amerikanische Militärs in einem rumänischen Dorf unfreiwillig stranden? Was passiert, wenn zwei Kulturen, die miteinander selten in direkten Kontakt stehen, aufeinander treffen?

Rumänien - das Land aus dem die guten Filme kommen? Seitdem Cannes 2007 gleich zwei Filmproduktionen aus dem jüngsten EU-Land ehrte, ist Rumänien kein weißer Fleck für Cineasten mehr. Regisseur Cristian Mungiu erhielt in Cannes die Goldene Palme für das Gesellschaftsdrama „Vier Monate, drei Wochen und zwei Tage“, das von einer illegalen Abtreibung in der Zeit der Ceausescu-Diktatur erzählt. Und in der Kategorie „Un certain regard“ war „California Dreamin´ (nesfarsit)“ von Cristian Nemescu preiswürdig. Die jüngsten Erfolge des rumänischen Kinos kommen überraschend. Den 21 Millionen Einwohnern stehen gerade einmal 70 Kinos zur Verfügung. In diesen laufen in der Regel Hollywoodproduktionen. Die rumänische Filmindustrie hatte nach dem Zusammenbruch des Kommunismus einen Tiefpunkt erreicht. Noch immer gibt es wenig Geld. Reich aber ist Rumänien an jungen Regisseuren, die gewillt sind, ihre Filmideen auch mit einfachen Mitteln umzusetzen. Nemescus Drama „California Dreamin“ wirft unterschwellig die Frage auf, wie es überhaupt zur Errichtung der kommunistischen Diktatur kommen konnte und beleuchtet die ganze Tragik des rumänischen Lebens.

Authentische Bilder, die man nur im Ausland für übertrieben hält

Das Drama des 1979 geborenen Regisseurs spielt 1999 zur Zeit der Kosovo-Krise. Zehn Jahre nach der Revolution, nach dem Ende des weltspaltenden Systemgegensatzes hat sich nicht allzu viel verändert. Im Juni 1999 begleitet eine amerikanische Marine-Truppe einen NATO-Zug mit militärischer Ausrüstung vom Schwarzen Meer bis zur serbischen Grenze. Sie haben eine mündliche Zusage aus Bukarest. Weit kommen sie nicht. Die Zugfahrt endet in einem unbedeutenden Dorfbahnhof wegen fehlender Zollpapiere. Soweit die reale Begebenheit, die dem Film zu Grunde liegt.
Unvorstellbar? Nicht für den rumänischen Kinogänger. Das Lachen im Kinosaal ist groß über Situationen, die hier jeder so oder so ähnlich kennt. Es sind authentische Bilder, die in Dogma-Manier über die Leinwand flimmern, die dem ausländischen Zuschauer aber wahrscheinlich als maßlose Übertreibung erscheinen müssen. Das Problem der Papiere wird bürokratisch gelöst und ein Fax vom Militärminister Richtung Transportminister gesendet, bis es am Ende in einem großen Papierberg verschwindet. Auf Rumänisch sagt man dazu „problema se rezolva“, was soviel heißt wie, die Probleme lösen sich – nur muss man warten.

Der Bahnhofsvorsteher hat seit dem Krieg eine Rechnung mit den Amis offen

Der Filmsaal verwandelt sich in einen großen Wartesaal – mit den Amerikanern wartet der Zuschauer darauf, dass sich endlich etwas bewegt. Doch der eigentliche Wartende sitzt nicht im Zug, sondern er hält ihn an: der Bahnhofschef Doiaru. Der hat noch eine Rechnung aus dem Zweiten Weltkrieg offen. Doiaru kann die Amerikaner, auf die er (nesfarsit) ohne Ende gewartet hat, nicht einfach fahren lassen, auch wenn der Grund ihres Kommens mittlerweile ein anderer Krieg ist.  
Jeder Tag, den er den Zug aufhält, schließt mit einem Rückblick, bis am Ende als Anklage die Frage steht: Warum seid ihr nicht gekommen? Doiarus Eltern, Fabrikbesitzer, flohen am Ende des Zweiten Weltkrieges vor den Kommunisten und ließen ihn mit dem Trost zurück: Wenn die Amerikaner kommen, dann sehen wir uns wieder. Sie kamen nicht, nicht als die Sowjets kamen, nicht als Ceausescu kam und seine Eltern sah er niemals wieder.
Die nächste Frage, die der Film aufwirft: Was passiert, wenn amerikanische Militärs in einem rumänischen Dorf unfreiwillig stranden? Was passiert, wenn zwei Kulturen, die miteinander selten in direkten Kontakt stehen, aufeinander treffen? Nur der Zweite Weltkrieg scheint reale Erfahrungen an die Amerikaner zu wecken. Sie fallen meist vom Himmel, wie Rückblenden uns glauben machen – in Form von Bomben made in USA oder als Pilot. Der Bürgermeister des Dorfes bewahrt eine Fotografie vom ersten schwarzen Mann auf rumänischen Boden als Trophäe auf.
Doch es ist nicht nur der Bahnhofschef, der Grund hat, die Amerikaner aufzuhalten. Da die Amerikaner sich so selten nach Rumänien verirren, ist es jetzt an der Zeit, die eigenen Belange vorzutragen. Die Fabrikarbeiter nutzen den angekündigten Zug für einen Streik auf den Gleisen mit der Botschaft „Ne' foame!“ (dt.: Wir haben Hunger). Der Bürgermeister möchte mit der Hilfe der Amerikaner sein Dorf bekannt machen, um wirtschaftlich davon zu profitieren oder wenigsten eine Partnerschaft mit der Heimatgemeinde des amerikanischen Captains herausschlagen. Die jungen Mädchen träumen beim Anblick der amerikanischen Soldaten von einem Leben in Amerika. Der rumänische Übersetzer nur von einer amerikanischen Uniform. Alle legen sich also mächtig ins Zeug. Der Bürgermeister lässt das 100-jährige Dorffest zur Ehren der Amerikaner nochmals feiern – auch gegen den leisen Einwand: Das war doch schon.

„United“ schreien sie gemeinsam und stürmen das Bahnhofsgebäude

Nemescu gelingt eine unglaubliche Mischung aus authentischen Bildern, die das rumänische Dorfleben einfangen und zur Satire werden: Das Dorffest gerät zur Wiederauferstehung amerikanischer Kultur, von der Elvis-Parodie bis zum texanischen Cowboy. Vor dem Hintergrund dieses bunten Treibens wird das Duell um Fahren oder Nicht-Fahren vom Bahnhofschef Doiaru (Razvan Vasilescu) und dem amerikanischen Captain Jones (Armand Assante) ausgetragen. Jones scheint lange der Unterlegene. Selbst ein Minister aus Bukarest kann ihm nicht helfen. Erst ein Bündnis mit dem Bürgermeister, der die Macht des zudem korrupten Bahnhofsleiters, der über ein gewaltiges Depot an verschwundenen Waren herrscht, das ihm den Schutz der Polizei garantiert, bringt Bewegung ins Spiel. Jones schwört die Dorfbevölkerung auf sich und gegen den kleinen Diktator ein. „United“ schreien sie da gemeinsam und stürmen das Bahnhofsgebäude, ein Ablenkungsmanöver, das die Amerikaner zur unbehelligten Weiterfahrt nutzen.
Bittere Wahrheiten verstecken sich hinter dem heiteren Dorftreiben. Das Drama, das Nemescu aufführt, ist das Drama zweier aufeinander treffender Kulturen, deren Verständigung zum Scheitern verurteilt ist. Schon der Bruderkuss des Bürgermeisters geht beim amerikanischen Captain Jones ins Leere. Die Versuche der Dorfbewohner, vom Streik der Arbeiter, bis zum Fest und denjungen aufgetakelten Mädchen, stehen am Ende für den Kampf für oder den Traum von einem besseren Leben. Doch es gibt keinen Ausweg aus der rumänischen Einöde.

Ein Drama voller bitterer Wahrheiten

Am Ende setzt sich der Zug wieder in Bewegung, an Bord amerikanische Soldaten mit Erinnerungen an eine versüßte Wartezeit und Unterhaltung. Das Gleichgewicht und Machtgefüge des Dorfes ist mit den Amerikanern ins Wanken geraten.
„California Dreamin´“ ist wahrhaft sehenswert. Der Film wird auch im Ausland Kinoerfolge feiern - nur wahrscheinlich eher als Komödie, bestenfalls als Tragikomödie, aber wohl kaum als Drama. Diesen Irrtum wird Cristian Nemescu nicht mehr aufklären können. Er kam am Ende der Filmproduktion gemeinsam mit seinem Toningenieur bei einem Autounfall ums Leben. Schuld an dem Unfall am 24. August 2006 in Bukarest war ein britischer Staatsbürger, der mit seinem Porsche Cayenne eine rote Ampel missachtete und die zulässige Höchstgeschwindigkeit um mehr als 60 km/h überschritt. Zusammenprall der Kulturen. Im rumänischen Kinosaal war das Lachen am Ende verhallt, untermalt von melancholischen Klängen: California Dreamin´.

Melanie Fröhlich (13.06.2007)         

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Schweigen ist feige: Der europäische Verfassungsvertrag in der deutschen und französischen Öffentlichkeit

Ist der Verfassungsvertrag tot? Eine ernsthafte Debatte über einen neuen Grundlagenvertrag für Europäische Union (EU)  ist kaum noch lebendig – zumindest in der deutschen und französischen Öffentlichkeit.
In beiden Ländern haben sich Desinteresse und Müdigkeit etabliert, über die Zukunft dieser Frage öffentlich zu diskutieren. Die Gründe dafür sind denkbar unterschiedlich.
Die französische Öffentlichkeit ist zu annähernd 100% mit dem Präsidentschaftswahlkampf beschäftigt, in dem sich keiner der Kandidaten die Finger am Thema EU-Verfassung verbrennen möchte. Immerhin hat sich an der Frage nach dem „oui“ oder „non“ zum Verfassungsvertrag ein Riss durch die Sozialistische Partei gezogen, der bis heute nachwirkt. Und nur weil Ségolène Royal sich nicht an dieser Debatte beteiligte, ist es ihr gelungen die Stimmen beider Lager auf sich zu vereinen und zur Präsidentschaftskandidatin ihrer Partei gekürt zu werden.
Auch in Deutschland flaute die publizistische Thematisierung nach dem ersten Europa-Boom in den Leitartikeln und Feuilletons zu Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im Januar merklich ab. Doch nicht wie in Frankreich ist hier die Brisanz des Themas sondern vielmehr ein allgemeiner Konsens über die Zustimmung zur Verfassung der Grund für die fehlende Debatte. Die Frage nach einer europäischen Verfassung hat kein Konfliktpotenzial und ist also massenmedial nicht diskussionswürdig. Auch aus politischen Gründen ist das Thema langweilig für die mediale Öffentlichkeit, denn die EU ist ein Produkt politischer Entscheidungen und damit verkörpert sie auch immer das politisch mögliche Europa der jeweiligen Gegenwart. Und die Möglichkeit der deutschen Ratspräsidentschaft in der Verfassungsfrage etwa zu bewegen, ist sehr gering. Frau Merkel und Herr Steinmeier wissen sich die Hände gebunden; denn solange es in Frankreich keinen neuen Präsidenten gibt und in Großbritannien keinen Nachfolger für Tony Blair, wird Deutschland kaum Partner für einen Neuanfang in der Verfassungsfrage finden.
Und so wird links wie rechts des Rheins über das Thema EU-Verfassung mehr geschwiegen als geschrieben, eine massenmediale Thematisierung findet kaum statt und damit auch keine breite öffentliche Auseinandersetzung. Und somit beschäftigen sich wieder einmal nur diejenigen mit Europa die sich ohnehin schon dafür interessieren und der europäischen Einigung gegenüber positiv eingestellt sind. Die Debatte wird weitgehend unpolitisch, verlagert sich in Europa-affine Kreise und folgt dort den standardisierten Mustern der Argumentation und Rhetorik, die sich wie folgt zusammenfassen lässt:
Die Stagnation des Verfassungsprozesses  wird als Sinnkrise und Krise der „Idee Europa“ selbst gedeutet. Deshalb müsse – dies ist die dominierende Argumentationslinie – das Streben nach einem vereinten Europa bei einer Introspektion der Europäer und der Reflexion über die „Idee Europa“ ansetzen. Erst mit der Bewusstwerdung über den Sinngehalt der „Idee Europa“ könnten die Grundlagen für die kontinentale Vereinigung der europäischen Nationalstaaten geschaffen werden. Eine kulturell definierte „Idee Europa“ soll dabei als gemeinschaftsstiftendes europäisches Identifikationsobjekt die Grundlage für einen Zusammenschluss der europäischen Staaten bilden. Vor allem durch die historische Suche nach dem Kern einer als originär europäisch angesehenen Kultur sollten die Grundmauern dieser Idee gestärkt werden.
Dann kann es sich jeder selbst aussuchen welche geschichtlichen Ereignisse und Entwicklungen uns zu Europäern machen. Spätestens an diesem Punkt beginnt die Beliebigkeit, getarnt als proeuropäischer Konsens: Alle sind sich einig wie wichtig und richtig ein vereinigtes Europa ist, aber geschwiegen wird über die Inhalte der einigenden Elemente, vermieden werden potenzielle Konflikt- und Diskussionspunkte. So wird der Diskurs zum Palaver und zur Sonntagsrhetorik.

Die Zukunft eines europäischen Verfassungsvertrags wird zum einen von politischen Entscheidungen abhängen, zu anderem auch von der Fähigkeit der europäischen Öffentlichkeiten, über diese Frage mutig zu diskutieren, auch um den Preis dabei die gemütliche Harmonie des Konsenses zu riskieren.

Marie Fabiunke         

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Cool! - Die englische Übersetzung von Lotmans „Kultura i vzryv“ erscheint 2007.

„My translation of 'Culture and Explosion' is likely to be published in 2007. Cool!“, kündigte über Weihnachten der Weblogger M. Clark an.* Die Nachfrage bei den estnischen Semiotikern bestätigt die Botschaft. Längst ist diese Ankündigung überfällig. Handelt es sich doch hierbei um das letzte Buch des Semiotikers Juri Lotman, das bereits 1992 ,ein Jahr vor seinem Tod, in Moskau erschien. Die estnisch-, polnisch-, russisch-, spanisch- und italienischsprachige Rezeptionsgemeinde wird Zuwachs bekommen. Als ein für so manchen verschlüsselter Geheimtipp kann „Kultura i vzryv“ mit der Veröffentlichung der englischen Übersetzung dann nicht mehr bezeichnet werden, und das ist sehr gut so.
„Culture and Explosion“ gilt neben „The Universe of the Mind“ - eine 2001 erschienene Übersetzung des Originaltextes „Vnutri mysljaschikh mirov“ - als Hauptwerk der letzten Schaffensjahre Lotmans, in denen er sein kultursemiotisches Konzept der „Semiosphäre“ ausarbeitete. Schon im Jahr 2000 brachte der russische Verlag „Iskusstvo“ die beiden Werke in einer Publikation mit dem treffenden Titel „Semiosfera“ zusammen. Geht es in „The Universe of the Mind“ in erster Linie um eine Ausformulierung des 1984 von Lotman eingeführten Konzeptes der Semiosphäre und ihres kulturellen dynamischen Mechanismus, so ist der Akzent in „Culture and Explosion“ auf die Bedeutung der explosiven Prozesse innerhalb der Semiosphäre gesetzt. Lotman kritisiert die Diskreditierung der explosiven Prozesse sowie ihre ausschließliche Konnotierung mit Zerstörung und Destrukturiertheit innerhalb des gegenwärtigen allgemeinen Sprachgebrauchs sowie der Geistes- und Kulturwissenschaft. Es ist die zentrale These des Buches, dass die gesamte Sphäre der Kultur ihre Bewegung nur in der komplizierten Wechselbeziehung zwischen explosiven dynamischen Prozessen und Mechanismen der Stabilität realisieren kann. Ein Ausblenden dieser Wechselbeziehung bedeutet das Ausblenden der zentralen Momente der kulturellen Bewegung, d.h. der Momente, in denen sich unvorhersagbare Veränderungen des kulturellen Zustandes ereignen, die durch einen äußerst hohen Informationsgrad geprägt sind.

Der Moment der Explosion ist gleichzeitig ein Ort der starken Zunahme der Information im gesamten System. Die Kurve der Entwicklung springt hier in einen völlig neuen, nicht vorhersagbaren und schwierigeren Weg über. Die dominierenden Elemente, die sich infolge der Explosion entwickeln und die die zukünftige Entwicklung bestimmen, können jedes mögliche Element aus dem System oder aus einem anderen System sein, die zufällig in die Explosion und somit in das Ineinandergreifen der Möglichkeiten der zukünftigen Bewegung einbezogen werden.“*

An „Kultur und Explosion“ angelehnt, umreißt Lotman 1993 in seinem letzten Interview kurz einen für ihn äußerst bedeutenden Aufgabenbereich der heutigen (Kultur-)Wissenschaft. Es geht um die Einführung des Begriffes der Unvorhersagbarkeit in die Wissenschaft und die damit verbundene Analyse der Wechselbeziehung zwischen unvorhersagbaren Prozessen und den Mechanismen der kulturellen Stabilität. Und wie eine Botschaft an die ihm folgende Generation wiederholt Lotman in seinem letzten Buch fast unermüdlich, dass explosive Prozesse nicht ausschließlich als „Krise“ zu verstehen und zu analysieren sind - ganz im Gegenteil.
2007 können wir uns hoffentlich auf möglichst viele Interpretationen von „Culture and Explosion“ freuen. In einigen der wenigen knappen deutschsprachigen Sekundärtexte zu „Kultur und Explosion“ wandelt dann vielleicht doch eher der Geist, der für die Geisteswissenschaften an deutschen Universitäten heraufbeschworen wird. Geht es hier überhaupt um Lotmans Publikation, wenn Ebert schreibt: „Lotman reagierte mit 'Kultura i vzryv' [auf das Ende der Sowjetunion], und vielleicht hat er damit auch das Ende der Kultursemiotik gemeint, die in diese 'Explosion' ebenso hineingeraten ist, wie die Kultur insgesamt“?* Wir werden es sehr bald erfahren.


Juri Lotman: Kultura i vzryv. In: Semiosfera. St. Petersburg (Iskusstvo) 2000, S. 22-23.
Juri Lotman: Na poroge nepredskazuemogo, Chelovek 1993.
Christa Ebert: Kultursemiotik am Scheideweg.

http://www.itbubble.com/?m=200612

http://www1.ku-eichstaett.de/ZIMOS/forum/docs/Ebert.html 

Marlene Heidel (10.02.2007)

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Die EU ist mehr als die Summe der Flaggen ihrer Mitgliedsländer. Eine Antwort an Rem Koolhaas

Dass es unangebracht ist spielerisch mit Europa umzugehen, sofern man es nicht mit Kindern zu tun hat, wurde einmal mehr in dem  Artikel “Wir wecken den Spieltrieb” (ein Interview mit dem niederländischen Architekten Rem Koolhaas) in der Wochenzeitschrift  “Die ZEIT” deutlich.
Im Interview formuliert der Architekt Rem Koolhaas einmal mehr seine Gedanken zu Europa und der EU, und weist auf seinen Beitrag zur Plakatisierung der EU hin, indem er z.B. eine neue EU-Flagge entworfen hat.
Die EU hat eine in ihrer Symbolik und Idee funktionierende Flagge. Wieso brauchen wir eine neue? Nur um unseren Spieltrieb zu wecken? Um uns zu amüsieren?
Die neue Flagge von Rem Koolhaas kann nicht als Symbol, weder für Europa und schon gar nicht fuer die EU verstanden werden, denn sie erweckt ein falsches Bild von der EU und verbildlicht allenfalls den weit verbreiteten Irrglauben, die EU sei ein Puzzle.
Die EU ist kein Puzzle, die eine bunte Flagge braucht, die sich mit jedem Beitritt um neue Farben erweitern lässt. So wie Koolhaas es propagiert. Die EU war seit ihrer Gründung ein Ganzes und um ihr gerecht zu werden muss sie auch als ein solches verstanden werden. Die Idee der Koolhaas-Flagge zeigt das Missverständnis des EU-Gedankens in ihrem Kern. Es geht nicht darum die EU durch Ihre Mitgliedsländer zu definieren, sich ihrer Kultur  und sogar ihrer Farben anzunehmen, sondern  sie durch Nationen,  die die gleichen Werte und Zukunftsvorstellungen haben, zu festigen und diesen Nationen einen Raum zu bieten in einer neuen Form an der Gestaltung unserer Zukunft mitzuwirken.
Ein zeitgenössischer Architekt sollte sich seiner Verantwortung gegenüber der Gesellschaft bewusst sein und die Blicke stets Richtung Zukunft führen, denn sich an altbewährten Symbolen zu probieren birgt immer ein hohes Risiko zu versagen in sich.
Die Koolhaas Position hat aber auch eine diagnostische Funktion. Sie konkretisiert die Schwachstellen und weist auf die Lücken, an denen wir in Europa noch arbeiten können.
Europa braucht keine spielerischen Gedanken, sondern vielmehr ernstzunehmende Architektur; eine Architektur die hilft die komplexen Strukturen und weit reichenden Relationen innerhalb der EU zu manifestieren.
Durch seine oftmals illustrativen und zweidimensionalen Aussagen trägt Rem Koolhaas maßgeblich dazu bei, das gegenwärtig ohnehin geschwächte Bild des Architekten noch weiter zu schwächen!
Architektur produzieren, heißt: beobachten-reflektieren-denken-bauen. Entfernt man eines dieser Glieder in der Schaffenskette, kann man kein zufriedenstellendes Ergebnis liefern. Koolhaas sollte sich dessen bewusst sein, wenn er sagt: “Im Übrigen bräuchten viele Leute heute das Denken von Architekten, ohne dass die gleich  etwas bauen.”
Ein Architekt der sein Handwerk begriffen hat, beendet seine Arbeit immer mit dem Bauen, als unausweichliche Vervollkommnung seines Schaffens. Wie ein Architekt zu denken, ohne jedoch etwas zu bauen ist unmöglich.
Den Europagedanken in Frage zu stellen und zum Neudenken Europas aufzurufen ist nicht nur verantwortungslos gegenüber Europa und allen Europäern,  sondern zeigt auch wie Koolhaas an seinem eigenen Berufsfeld vorbeigedacht hat. Weder ein Einzelner noch ein einziges Berufsfeld ist in der Lage einem so komplexen Bauwerk wie es die EU darstellt eine neue Form geben.
Auf die Frage was Ihm spontan einfiele, wenn er an Europa denke antwortet Koolhaas:
Scham. Mir ist es unglaublich peinlich, wie mit dem Thema umgegangen wird, wie sehr wir die Möglichkeiten der EU unterschätzen. Wie wenig wir wissen. Auch ich wusste lange fast nichts.“
Scham empfinde ich nicht bei dem Gedanken an Europa, sondern vielmehr bei dem Gedanken, dass ein solch populärer  Architekt und Europäer  wie Rem Koolhaas, es nicht versteht seinen Beitrag zu leisten, die Konstruktion Europäische Union zu stabilisieren und stattdessen zu ihrem Einsturz und Neuaufbau rät.
Die EU wurde schon erdacht und Europa kann nicht neu erdacht werden. Denken und formen sollten wir stattdessen unsere Zukunft. Eine Zukunft in den Räumen Europas.

Vart Bisanz, Maastricht

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Europa als politische Gegenwart und als öffentlicher Raum der Kultur - Interview mit der Deutschen Welle am 30.6.2006

DW: Ein Jahr wollten sich europäische Politiker Zeit geben, um "nachzudenken". Haben sie ihre Hausaufgaben gemacht, wenn ja, welche Konsens ist dabei herausgekommen?

KIE: In der Frage des Verfassungs-Vertrags hat sich seit einem Jahr nichts bewegt - außer den sich wiederholenden Plädoyers der (Europa)-Politiker für eine Reflexionsphase und die Beteuerung bester europäischer Absichten.

Eine vernünftige öffentliche Debatte konnte allerdings nicht geführt werden, weil die Absagen der Franzosen und Niederländer und die Kritik am Verfassungsvertrag nicht ernst genommen wurden. Stattdessen wurden die in den Referenden ausdrückte Ablehnung des Verfassungsvertrages als Kommunikationsproblem definiert. Die "Kommunikation" habe nicht funktioniert - so die dominierende Deutung der Politiker und der Medien - es sei nicht gelungen, den EU-Bürgern die Vorteile des Vertrages zu vermitteln. Hinter diesem Argument steckt die Vorstellung, dass alle dem vorgelegten Verfassungsvertrag zugestimmt hätten, wenn sie nur richtig zugehört hätten oder wenn man es ihnen nur einleuchtender erklärt hätte. Die Tatsache, dass die Ablehnung auf Grund sachlicher Faktoren erfolgte wird dabei ausgeschlossen. Größer könnten die Ignoranz und das Desinteresse gegenüber den Vorstellungen und Positionen der europäischen Bürger kaum sein.

Das größte Problem dieses momentanen Stillstands oder der offizielle verordneten Reflexionsphase ist die Tatsache, dass nach dem französischen und niederländischen "Nein", diejenigen Staaten unbeachtet blieben, die den Vertrag bereits ratifiziert haben - das sind 15 von 25, womit mehr als die Hälfte der 454,3 Mio. EU-Einwohner dem Verfassungsvertrag bereits zugestimmt haben. Diese Stimmen wurden offenbar vergessen.

Zu neuen Bemühungen um einen Verfassungsvertrag wird es wohl erst in der ersten Jahreshälfte des Jahres 2007 kommen, wenn Deutschland den EU-Ratsvorsitz übernimmt. Wie es aussieht, meint Angela Merkel es ernst mit ihren Bemühungen, die Verfassungs-Denbatte wieder zu beleben, nicht zuletzt um Deutschland eine neue europapolitische Bedeutung zu verleihen.

DW: Renationalisierung" ist ein abschreckendes Stichwort für alle Europa-Befürworter. Ist dies nur ein Modewort, eine Modeerscheinung oder steckt mehr dahinter?

KIE: Der europäische Integrationsprozess und das Streben nach einer europäischen Einigung waren immer durch wechselnde Dynamiken gekennzeichnet, bei denen zu unterschiedlichen Zeitpunkten und in unterschiedlicher Ausprägungen jeweils nationale und oder europäische Orientierungen dominierten. Nach dem Abbruch des Verfassungs-Ratifikationsprozesses im letzten Sommer war die Europa-Euphorie erstmal dahin. Von dem Phänomen einer Re-Nationalisierung kann allerdings nicht die Rede sein, denn Europa und Nation gehören zusammen. Die Nation als Idee und politische Organisationsform ist Teil der europäischen Geschichte und Kultur. Deshalb kann es eine europäische Einigung ohne die Dimension der Nation nicht geben, alles andere wäre postnational-träumerischer Übereifer.

Beim Prozess der europäischen Integration kann es nicht darum gehen, die Nation zu überwinden, sie wird vielmehr stets ein Teil Europas sein, auch wenn mit dem Integrationsprozess schrittweise mehr Kompetenzen auf eine transnational-europäische Ebene verlegt werden. In diesem Prozess geht es darum, eine politische Gemeinschaft zu ermöglichen, in der die europäischen Nationen aufeinander zu- und eingehen und idealerweise einen Konsens oder eine für alle Beteiligten tragbare Lösung finden.

DW: Europa distanzierte sich lange Zeit von Amerika darin, dass der alte Kontinent nicht länger auf ideologisierte Werte, sondern vielmehr auf Toleranz, Kooperationismus und Friedensbewegung setzte. Nun aber flammen nahezu zeitgleich in den meisten europäischen Ländern Wertediskussion auf, diesmal allerdings nicht zur Abgrenzung von Amerika, sondern zunehmend von anderen "nichtabendländischen" Kulturen, zumal Religionen. Wäre diese Wertediskussion eine neue Basis für die europäische Einigung?

KIE: Die USA und Europa sind gegenwärtig wie historisch unterschiedlich konstituiert und haben unterschiedliche politische Kulturen. Einen Gegenüberstellung Europas und Amerikas oder deren Vergleich - sei er positiv oder negativ, als Vorbild oder als Gegen- oder Feindbild formuliert - ist daher wenig weiterführend. Ein Beispiel für derartig fehlgeleitete Vergleiche erleben wir heute in der Debatte über die Bildungs- und Wissenschaftspolitik, der zu Folge sich Europa an amerikanischen Leitbildern orientieren sollte. Dieser Ansatz kann nicht erfolgreich sein, denn die Wissenschafts- und Bildungskultur und die Strukturen und Mentalitäten, die sich daraus entwickelt haben, sind derart unterschiedlich, dass eine Adaption der europäischen Universitäten an das amerikanische Modell nicht gelingen kann. Stattdessen muss ein europäischer Weg gefunden werden, der den Strukturen und Dynamiken der europäischen Bildung und Wissenschaft entspricht.

Das Reden über Werte, wie sie in der Politik und in den Medien sehr oft auftaucht, ist reine Rhetorik. Bei den diskutierten Werten, die Europa zugeschrieben werden, handelt es sich um flexible und dehnbare Begriffe - oftmals Leerformeln, die mit einer Vielzahl unterschiedlicher und teilweise gegensätzlicher Inhalte gefüllt werden können. Dabei soll häufig überspielt werden, worum es wirklich geht: um Interessen und um den Einfluss, diese zu realisieren. Und um für die Umsetzung dieser Interessen einen öffentlichen Konsens zu erhalten, wird die politische Diskussion mit Werten dekoriert. Das ist grundsätzlich kein Geheimnis, aber in Bezug auf Europa wird die rhetorische Verwendung von Werten nur selten kritisch hinterfragt. Aber in einer demokratischen Öffentlichkeit sollte es möglich sein, die Diskussionen über Europas Werte nach den ihr zu Grund liegenden Funktionen zu befragen ohne dabei als europaskeptisch zu gelten.

DW: Auch der ökonomische Rahmen für die EU hat sich stark verändert. Die BRIC-Länder (Brasilien, Russland, Indien, China) und die 12 anderen "kleinere Tigerstaaten" (boomende Staaten in Asien z.B. Singapur, Honkong. Malaysia, Südkorea, Taiwan, Thailand, Philippinen etc.) fordern immer mehr den gesamten "Westen" heraus, dies zunehmend in strategischen Fragen wie Energieversorgung, bei der die USA als Nationalstaat viel effektiver reagieren kann als dieser Bündel europäischer Kleinstaaten. Ergibt sich aus diesem ökonomischen Druck eine andere Quelle für das Wiedererstarken vom "vereinigten" Europa?

KIE: Die "Gaskrise" Anfang diesen Jahres hat eine der größten Schwächen der europäischen Energiepolitik bloßgelegt: Aufgrund nationaler Interessen gibt es keine wirkliche gemeinsame Energiepolitik und der Schaffung eines Energiebinnenmarkts stellen sich zahlreiche Hindernisse in den Weg.

Doch dies sind nur die akuten Probleme. In der Energiepolitik wie in anderen Bereichen kann es sich die EU nicht leisten, nur über kurzfristige Fragestellungen zu diskutieren, sondern es müssen langfristige Pläne entwickelt werden. Die EU muss sich fragen, wie sie innovative und alternative Formen der Energiegewinnung fördern kann.

Das Beispiel Energiepolitik steht dabei auch exemplarisch für ein Grundproblem des gegenwärtigen politischen Europas: Europa muss sich auf seine eigenen Kapitale konzentrieren und politische Strukturen schaffen, die deren bestmögliche Aktivierung ermöglichen. Dafür braucht die EU langfristige ausgerichtete und genuin europäische Visionen. Und wir brauchen klare europäische Zuständigkeiten und Kompetenzen, um diese zu realisieren.

DW: Als Kulturwissenschaftlerin frage ich Sie, wie Sie beispielsweise einem Chinesen das erklären würden, was die Kultur Europas charakterisiert. Ist es die Gesamtheit der einzelnen nationalen Kulturen? Wie sieht das Haus der europäischen Kultur aus?

KIE: Die Metapher das europäischen Hauses ist so oft bemüht und mit unterschiedlichen und gegensätzlichen Inhalten besetzt worden, dass sie zu einer Phrase geraten ist. Wir sollten uns von dieser etablierten und standardisierten Europa-Rhetorik entfernen.

Europas Kultur besteht nicht nur aus der Gesamtheit der nationalen Kulturelemente sondern eine sie ist eine gemeinsame kulturelle Textur, die sich aus dem Zusammenwirken dieser einzelnen Elemente herausbildet und zwar durch die Kommunikation und Zirkulation von Europäerinnen und Europäern. Bei diesen Dynamiken kommt es immer wieder zur Überschreitung verschiedener Grenzen und zum Aufbau von Asymmetrien, die im öffentlichen Raum zur Verdichtung europäischer Kultur führen können. Dies schließt das Bewusstsein unterschiedlicher kultureller Sphären ein, und das bedeutet, dass sich diese einzelnen Sphären ständig selbst definieren müssen wen sie in Berührung miteinander kommen.

Auf diese Weise konstituiert sich auch eine europäische Identität und hier wird sichtbar, dass eine solche Identität nichts mit kosmopolitischen Identitäten zu tun hat, die ja auf Gemeinsamkeiten unterschiedlicher Bestandteile fokussiert sind. Eine europäische Identität konstituiert vielmehr sich durch die Unterschiede ihrer Einzelelement und der Dynamiken, die sich zwischen ihnen bilden, diese Bewegung - durch Kommunikation und Zirkulation - selbst ist genuines Merkmal einer europäische Identität.

DW: Könnte dieses Zusammenspiel von Unterschiedlichkeiten ein Modell sein für andere Regionen der Welt? Was könnten andere Kulturen dieser Welt von Europa lernen?
KIE: Um ein europäisches "Vorbild" kann es nicht gehen. Jede Region und jede Gemeinschaft muss ihre eigenen Wege finden, mit ihren inhärenten Unterschiedlichkeiten umzugehen: die Konflikte zu bewältigen ebenso wie die produktiven Kräfte als Kapital zu nutzen, die sich daraus ergeben können.

Marie Fabiunke (30.06.2006)

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Die Öffentlichkeit und die Grundlagen der Demokratie in Europa

Er hat es selbst zugegeben: "Ich komme mit diesen Regeln nicht zurecht". So äußerte sich der italienische Regierungschef Silvio Berlusconi nach dem TV-Duell mit seinem politischen Gegner Romano Prodi - und traf den Kern der Sache: Es geht um die Regeln, die Regeln, nach denen Politik und Medien im öffentlichen Kommunikationsraum zusammenwirken. Das Fernsehduell zwischen den beiden Kontrahenten war Teil des medialen Wahlkampfs für die italienischen Parlamentswahlen, die am 9. und 10. April stattfinden. Berlusconi und Prodi wollen hier die Grundlagen dafür schaffen, Premierminister Italiens zu werden.
Zwei Tage vor dem Duell ereignete sich das vorläufige Highlight der medialen Inszenierung dieses Wahlkampfs. Berlusconi brach ein Interview im staatlichen Fernsehsender "Rai Tre" vorzeitig ab, denn auch hier kam er mit den Regeln nicht zurecht: Als die Interviewerin Lucia Annunziata Berlusconi darum bat, seinen Monolog zu unterbrechen und ihre Fragen zu beantworten, verließ dieser fluchend und schimpfend das Studio und drohte der Interviewerin "Das wird ein Fleck auf Ihrer Karriere bleiben."


Die Regeln sind also der Kern des Problems. Aber um welches Problem geht es? Es geht um die Medien, die Macht und die Politik und um ihre Abhängigkeiten. Wer beeinflusst wen? Beide beeinflussen sich gegenseitig, wäre die Antwort, die der Wirklichkeit am nächsten käme. Und in gewisser Weise suggeriert diese Antwort auch eine Ausgeglichenheit, die zunächst beruhigend erscheinen könnte. Das Gegenteil ist der Fall: Bei den gegenseitigen Einflüssen von Medien, Kapital und Politik, bei denen die Grenzen zwischen den einzelnen Bereichen zunehmend verschwimmen, steht die Legitimität und die Glaubwürdigkeit von Medien in der demokratischen Gesellschaft auf dem Spiel. Publizistische Glaubwürdigkeit ist in der Unabhängigkeit der Medien verankert, in ihrer wirtschaftlichen und politischen Freiheit. Berlusconi stellt diese Unabhängigkeit in Frage, wenn er seine wirtschaftliche Macht über die Medien - seine Mediaset-Netzwerke sind die größte private Konkurrenz für die drei staatlichen RAI-Programme - in eine (medien-)politische Macht umfunktioniert.
Was für Italien gilt, gilt ebenso für Europa: Die gegenseitige Indienstnahme wirtschaftlicher, medialer und politischer Macht steht im Gegensatz zu den Prinzipien einer demokratischen Öffentlichkeit, die sich frei und offen entfalten und Kritik und Diskussion ermöglichen sollte - unabhängig von den wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnissen. Eine demokratische Öffentlichkeit legitimiert das politische System der Demokratie, auf nationaler wie auf europäischer Eben, denn sie ist die Prämisse für freie Information und Kommunikation und damit die Voraussetzung für die Partizipation am politischen Prozess. Die politische Kultur der Demokratie ist untrennbar mit Publizität verbunden. Und weil das heutige Europa in erster Linie ein durch Medien geschaffener öffentlicher Kommunikationsraum ist, bildet eine demokratische Öffentlichkeit in besonderer Weise die Grundlage für ein demokratisches Europa.

Marie Fabiunke (25.03.2006)


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I love EU?! - Österreichs Bekenntnis

Mit der EU-Ratspräsidentschaft Österreichs für das laufende Halbjahr 2006 erlebt die Ikonografie der Europäischen Union eine kreative, äußerst ästhetische Belebung. Österreichs Umsetzung der europäischen Bildsprache führt eine geringfügig veränderte Version des Bildes des niederländischen Architekten Rem Koolhaas an, der den "Barcode" - so der Titel seines Werkes - im Jahr 2004 zur Erweiterung der Europäischen der Öffentlichkeit vorstellte. In der Ausstellung "Das Bild Europas" präsentierte er von November 2004 bis Januar 2005 im Münchner "Haus der Kunst" auch weitere Vorschläge zur visuellen Darstellung dieser (Link zur Ausstellung), so auch das Bild "I love EU".


angelehnt an das Bild des Architekten Rem Koolhaas "Barcode" 2004: das (Marken)Zeichen der österreichischen EU-Ratspräsidentschaft

Österreich greift mit der Verwendung des Bildes die Forderung nach einer ausdruckstärkeren Bildsprache der Europäischen Union auf. Das nun offizielle (Marken)Zeichen verweist auf die Farben der Nationalfahnen der 25 EU-Mitgliedstaaten, wobei es die Farben der estnischen Flagge (blau-schwarz-weiß) allerdings nicht ganz korrekt verarbeitet - was momentan unter den Begriff der künstlerischen Freiheit fällt. Im direkten Vergleich mit dem Symbol der Europäischen Union "Sternenkreis auf blauem Hintergrund" (auf dessen Verwendung die offizielle Website zur EU-Ratspräsidentschaft verzichtet) bietet der "Barcode" stärkeren ikonischen Bezug. Im Hinblick auf die beliebige Erweiterbarkeit seiner Farbreihen und damit der direkten Sichtbarmachung der typischen Nationalfarben der EU-Mitglieder versteht es sich als ausdrucksstärkere Projektionsfläche, in der sich Bürger der jeweiligen EU-Staaten spiegeln können. Das Logo der Österreicherischen EU-Ratspräsidentschaft betont die Vielseitigkeit der EU - und mündet zugleich in einem Symbol, umrahmt diese sinnbildlich. In welcher Form der "Barcode" künftig zirkulieren und reproduziert werden wird, ist völlig offen. Doch ein Anfang ist gemacht: Das Repertoire an Zeichen, auf das Europäer zurückgreifen können, um ihrer Identität Ausdruck zu verleihen, findet sich in sehr ansprechender Weise erweitert. Ein Dankeschön an Österreich!

Weiterführender Link zur EU-Ratspräsidentschaft http://www.eu2006.at/

Christina Frank(13.02.2006)


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Das "Nein" der Franzosen - mehr als eine Kritik an der EU-Verfassung

Das "Nein" fast 55 Prozent aller Franzosen zur EU-Verfassung dominiert in diesen Tagen die Nachrichtenagenden der europäischen Medien. So vermochte es auch Sabine Christiansen am vergangenen Sonntag in ihrer Sendung einige Minuten lang nicht, die politische Diskussionsrunde auf das ursprüngliche Thema der möglicherweise in Kürze anstehenden Neuwahl einer Bundesregierung zurückzuführen. Die Nachricht der Ablehnung der EU-Verfassung durch das französische Volk erschütterte die Talkrunde. Kritisch beurteilte man die Verbindung der Abstimmung über die Verfassung mit französischen innenpolitischen Konflikten. Doch auch die nicht ablehnende Haltung Chiracs zur Erweiterung der Europäischen Union in Bezug auf die Türkei oder andere Staaten hätten letztendlich dazu bewegt, der EU-Verfassung eine Absage zu erteilen.
Hierbei scheint es geradezu notwendig zu fragen, ob die Abstimmung und ihr Ergebnis über eine Entscheidung zur EU-Verfassung hinaus reichen und nicht sogar als eine Abstimmung bezüglich der europäischen Integrationspolitik verstanden werden kann.
Der Entwurf der Europäischen Verfassung regelt unter anderem das Verfahren für den EU-Beitritt, behandelt Werte, Symbole, Ziele und Grundrechte in der Europäischen Union und bildet damit die Voraussetzung für eine intensivere Integration der jetzigen sowie künftigen Mitglieder der EU. Er ist der Schlüssel zu einer demokratisch organisierten Union und würde die in vielen Teilen schein-demokratischen EU-Politstrukturen erneuern. Sollte dies allen französischen Wählern bewusst gewesen sein (wovon hier einmal ausgegangen wird), hätte es nicht zu diesem Abstimmungsergebnis kommen müssen. Es sei denn, das klare "Nein" ist auch als ein Zeichen gegen die weitere europäische Integration zu verstehen, als die Forderung nach einem langsameren und bedächtigerem vollzogenem Integrierungsprozess und der Angst vor wachsender Ungleichgewichten auf dem europäischen Arbeitsmarkt.
So könnten die EU-Integrationsgespräche mit der Türkei die Zurückhaltung in der französischen Bevölkerung hervorgerufen, die Franzosen gar aus dem in der EU vielfach nur latent ausgebildeten Bewusstsein über eine tatsächlich gelebte EU-Bürgerschaft mit gelebten EU-Rechten und einer dazugehörigen Identität aufgeweckt haben. Denn es hat den Anschein, als hätte man bewusst gewisse europäische Werte bedroht gesehen und diesem Unmut mittels demokratischer Wege eine Form gegeben. Damit hat paradoxer Weise die fortschreitende, fast atemlos vorangetriebene EU-Integration ihr erstes Opfer gefordert und sich selbst den Dolch durch den Rücken in das Herz gestoßen.
Es scheint, als wenn sich unsere EU-Politiker in einigen Dingen noch nicht über das Ausmaß ihres Handelns bewusst sind oder sein wollen. Denn niemand scheint in der Tat damit gerechnet zu haben, dass ein Mitgliedstaat der EU und dazu auch noch ein Gründungsmitglied diese Verfassung ablehnen würde. Selbstgefällig und selbstsicher hat man keinen Gedanken daran verschwendet, dass sich EU-Verfassung betreffende Abstimmungen wandeln können zu Abstimmungen über weitere Politikfelder der EU wie über die Integrationspolitik und ihr in Teilen grobfahrlässiger Umgang mit den Grenzen europäischer Identität und Ängsten. Die Europäische Union täte jetzt gut daran, sich deutlich als Identitätsgemeinschaft zu profilieren, um ihren EU-Bürgern die bereits zart wachsende Identität als Bürger der Europäischen Union zu ermöglichen. Aus diesem Grund ist es an der Zeit, nach innengerichtete europäische Identität zu erschaffen und sie als die Grundvoraussetzung für die Existenz der Europäischen Union zu verstehen. Die EU steht vor der Tatsache, dass es ohne gestärkte gemeinsame Identität keine gemeinsame EU-Verfassung geben kann.


Christina Frank(31.05.2005)

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Der Deutsche Bundestag ratifiziert den europäischen Verfassungsvertrag - und blickt nach Paris

Der Bundestag hat mit großer Mehrheit den europäischen Verfassungsvertrag ratifiziert, die Zustimmung des Bundesrats am 28. Mai gilt als ebenso sicher. Die deutschen Parlamentarier sollen den Franzosen mit gutem Beispiel vorangehen, hatte sich doch Bundeskanzler Gerhard Schröder für einen frühen Abstimmungstermin eingesetzt, um noch ein deutliches pro-europäisches Signal in Richtung Westen zu senden.
Nicht zu unrecht: Der Ausgang der französischen Volksabstimmung über die Verfassung am 29. Mai ist noch vollkommen ungewiss.

Auch wenn die Kritikpunkte der Verfassungsgegner und ihre Forderung nach einem sozialeren Europa ernster genommen werden sollten, steht fest, dass die EU eine Verfassung braucht, und zwar so bald wie möglich.
Warum? Die politischen Institutionen müssen vereinfacht, die Entscheidungsprozesse transparenter gestaltet werden, der vorliegende Verfassungsvertrag enthält dazu wichtige Neuregelungen. Die EU braucht ein Gesicht. Mit der Verfassung hätten wir einen hauptamtlichen Präsidenten für den Rat der Staats- und Regierungschefs - eine Art "Europa-Präsident". Der Posten eines europäischen Außenministers würde neu geschaffen, ebenso ein europäischer diplomatischer Dienst. Wenn die EU es ernst meint mit ihren Ambitionen als weltpolitischer Akteur, dann ist dies ein erster symbolischer Schritt. Symbolisch, weil der EU-Außenminister kaum eigene Kompetenzen hätte; ein Anfang für eine bessere Sichtbarkeit der europäischen Außenpolitik wäre es allemal.
Auch nach innen kann die Verfassung Europa stärken: In der Präambel und der Grundrechte-Charta werden die Werte und Ziele der Union formuliert, die EU wird als Wertegemeinschaft definiert und bildet so eine Grundlage für eine lebendige europäische Identität.


Die überwältigende Bundestagsmehrheit für die Verfassung - fast 95% stimmten dafür- täuscht über das in Deutschland weit verbreitete Desinteresse hinweg. Die Debatten in Politik und Öffentlichkeit sind mau, an der Mehrheit der Bevölkerung gehen sie ganz vorbei. Der "historische Schritt" steht als Floskel hoch im Kurs, von allen Seiten sind Europa-Bekenntnisse zu vernehmen - und doch wirkt der Pathos eher gewollt als leidenschaftlich. Von Europassion keine Spur.
In dieser Hinsicht haben die französischen Europäer uns Deutschen einiges voraus. Die lebendigen Debatten in Frankreichs Öffentlichkeit zeigen, dass sich die Bürger über die Zukunft der EU Gedanken machen - ein guter Grund, Paris im Auge zu behalten und dabei auf ein "oui" zu hoffen.

Marie Fabiunke (20.05.2005)


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Anfang Mai beantwortete das KIE in einem Interview die Fragen des Radiosenders Deutsche Welle über aktuelle Probleme und Perspektiven der EU. Das Interview wurde am 23.5. im Rahmen einer Radiosendung zur europäischen Verfassung in chinesischer Sprache ausgestrahlt.

Lesen Sie hier ein Résumé des Interviews:

DW:
Europa war und ist zuerst ein geographischer Begriff, ein Kontinent mit vielen Kulturen und Sprachen. Europa als Kontinent hat auch schon immer auf sein Banner geschrieben, dass diese Vielfalt auch bleibt. Wenn jedoch nach der Ökonomie und zunehmend auch die Verwaltung nun auch politische Entscheidungswege "kondensiert" und konzentriert werden sollte, was wäre noch der Garant dafür, dass die Vielfalt erhalten bleibt, die gesellschaftliche Pluralität plus Multikulti?

Kie:
Europa ist gerade durch die Spannung gekennzeichnet, die zwischen kultureller Vielfalt einerseits und dem politisch-wirtschaftlichen Integrationsprozess andererseits besteht. Kultureller Polyzentrismus und die Zentralisierung politisch-administrativer Macht und Wirtschaftskraft stehen sich dabei als Gegenpole gegenüber.
Wir gehen in unserer kulturwissenschaftlichen Arbeit von einem weiten Kulturbegriff aus, der die politischen, ökonomischen und künstlerischen Teilbereiche einer Gesellschaft und deren Institutionalisierungen umfasst. Europa ist ein kultureller Raum. In einem solchen Verständnis ist das politische System der EU mit seinen Institutionen also ein Ausdruck der europäischen Kultur. Die kulturelle Dimension der europäischen Integration ist daher ist nicht zu trennen von der politischen und wirtschaftlichen.
Der aktuell vorliegende Verfassungsvertrag kann ein Beitrag sein zur Erhaltung der kulturellen Vielfalt in Europa. Nicht nur in der Losung "in Vielfalt" geeint, sondern auch in den Regelungen zur europäischen Kulturpolitik wird die Verpflichtung zur kulturellen Vielfalt deutlich, wie zum Beispiel in den vertraglichen Regelungen zu kulturellen und audiovisuellen Gütern und Dienstleistungen.
Die EU braucht eine Kulturpolitik, die die Entfaltung der verschiedenen nationalen und regionalen Kulturen ermöglicht und dabei gleichzeitig Synthesen einer gemeinsamen europäischen Kultur fördert.


DW:
Kommen wir von dem abstrakten Thema der europäischen Kultur zur konkreten Politik: Europa versteht sich, glaubt man Politikern und ihren Parteiapparaten, auch geopolitisch als eine neue "Macht", eine Alternative, etwa zu den USA. Was ist, ideell wie reell, wirklich so anders, so alternativ in Europa, und wie soll diese Alternative realiter geschaffen bzw. erhalten werden? Dadurch etwa, dass aus Europa nie eine Weltherrschaft als Anspruch der Europäer erhebt und formuliert?

Kie:
Die politischen Werte der EU, vor allem der Außenpolitik unterscheiden sich in vielfacher Hinsicht von denen der USA. Auch wenn die EU im Irakkrieg keine einheitliche Position vertreten hat, gibt es in Europa auf Grund der historischen Erfahrungen eine spezifisch europäische Perspektive der Weltpolitik.
Der reflektierte Umgang mit der geschichtlichen Kontinuitäten und Brüchen europäischer Außenpolitik, vor allem mit ihren dunklen Seiten wie dem Imperialismus und dem Kolonialismus sollte es den Europäern ermöglichen, eine eigenständige und verantwortungsvolle Rolle in der Weltpolitik zu übernehmen. Sicherlich verfolgt die EU als globaler politischer Akteur eigene (geo-)politische Interessen, das ist legitim und wichtig, aber sie orientiert sich dabei Idealerweise an den Werten Frieden, Gerechtigkeit, Solidarität. Zudem verfolgt die EU ihre Außenpolitik im Einklang mit den Vereinten Nationen und dem Völkerrecht.
Der Verfassungsvertrag beinhaltet die neue Funktion des EU-Außenministers. Obwohl er nur mit wenigen eigenen Instrumenten und geringen Kompetenzen ausgestattet ist, so könnte er zu einer besseren Sichtbarkeit der europäischen Außenpolitik führen, auch im Sinne einer alternativen Position in einer globalisierten und gleichzeitig zunehmend unilateralen Weltpolitik.


DW:
Kommen wir zu einem weiteren Problem der europäischen Aktualität: Europa aus kulturwissenschaftlicher Perspektive soll eine europäische Identität formulieren, damit das kulturelle Europa glaubwürdig ist bzw. wird. Ist eine solche - wie unterschiedlich das letzte Verständnis auch immer sein mag - europäische Identität überhaupt anstrebenswert? Wäre es da nicht viel realistischer bzw. wünschenswerter, deutsche, französische, belgische und griechische Identität zu bevorzugen, unter dem Vorbehalt, dass alle die universellen Werte akzeptieren z.B. Menschenrechte?

Kie:
Eine europäische Identität ist erstrebenswert und sie ist notwendig für die Integration nach innen und für ein starkes gemeinsames Auftreten nach außen. Das spezifisch europäische Element einer solchen Identität besteht im Zusammenwirken nationaler und regionaler Zugehörigkeiten und der speziell europäischen Erfahrung universeller Werte.
Das aktuelle Problem ist nicht die Mangel einer europäischen Identität - sie existiert bereits auf Grund der gemeinsamen historischen und kulturellen Erfahrungen - sondern der fehlende persönliche Bezug vieler Bürger zur EU. Wir Europäer müssen den Mut haben, mehr Dialoge und Begegnungen miteinander einzugehen, uns auf die anderen einzulassen und gemeinsame Erfahrungsräume zu erleben. Nur so können wir eine lebendige europäische Identität entwickeln. Sie sollte als ein positiver gemeinsamer Bezugspunkt aller Europäer funktionieren, aus dem sie ihre Zugehörigkeit zur politischen Institution der EU beziehen.


DW:
In der Diskussion über eine europäische Identität spielt ja auch der Begriff eines stark "christlich" geprägten "Abendlands" eine wichtige Rolle. Inwiefern soll hier ein lange tradiertes Modell des "Glaubens" im weitesten gefassten Wortsinn das Europäische mit prägen, in was für einem Verhältnis steht das "Weltlich-Europäische" zu der Glaubenskomponente?

Kie:
Europa ist eine Wertegemeinschaft. Ihre normativen Grundlagen haben sich vor allem aus dem Zusammenspiel von Christentums, Aufklärung und Humanismus geschichtlich entwickelt. Daraus sind substantiell bestimmbare Werte entstanden, die für die europäische Union konstitutiv sind: Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft.
Die EU braucht als politische Gemeinschaft Werte als Grundlage des Zusammenlebens. Das Inkrafttreten des Verfassungsvertrags würde den europäischen Wertekanon kodifizieren. Entscheidend ist hier die Präambel: in ihr wird die zentrale Stellung des Menschen, die Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit seiner Rechte und sowie der Vorrang des Rechts in der Gesellschaft verankert.
Eine europäische Wertegemeinschaft ist offen für diejenigen, die sich mit diesen Werten identifizieren, an sie glauben und ihr Denken und Handeln danach ausrichten. Problematische Situationen werden sich erst ergeben, wenn in der EU Menschen aus verschiedenen Kulturen, Völker und Staaten zusammenleben, deren Werte damit nicht vereinbar sind.


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Interview der Staatsministerin Dr. Christina Weiss mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut für Europaforschung

1. Ist es eine schwierige Aufgabe, im heutigen Deutschland im Dienste der Kultur zu arbeiten? Wie überwinden Sie die bestehenden Hürden?

Die größte Schwierigkeit entstammt einem Missverständnis: viele Menschen glauben, in einer Kulturnation gehöre die Kultur zum Alltag und werde quasi frei Haus geliefert. Kultur allerdings ist ein Prozess, dem man sich immer wieder neu stellen muss und der sich nicht auf den Besuch von Museen und Opernhäusern beschränken lässt. Dieses Grundverständnis immer wieder neu zu vermitteln ist mein größtes Anliegen. Ich will moderieren, reformieren und nicht zuletzt auch etwas missionieren. Dabei stoße ich als Vertreterin der Bundespolitik zwar immer wieder an die Grenzen unseres föderalen Systems, in dem die Kulturhoheit der Länder gut verankert ist. Gemeinsam mit den Ländern nach innovativen Kooperationsmodellen zu suchen und die Kultur in allen Teilen Deutschlands zu stärken ist jedoch eine schöne Herausforderung, der ich mich gern stelle. Mit Freude stelle ich dabei immer wieder fest, dass das erst 1998 geschaffene Amt der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) als Ideengeber, als Ansprechpartner und Interessenvertreter der Kultur und der Medien in Deutschland und in Europa anerkannt ist.

2. Können wir Deutsche behaupten, auf Grund unserer deutsch-deutschen Erfahrungen ein besseres Verständnis und Gespür für das Zusammenwachsen zwischen Ost und West zu haben? Wie können wir diese Erfahrungen im europäischen Raum umsetzen?

Seit 15 Jahren sammelt Deutschland einmalige Erfahrungen bei der Aufgabe, Ost und West zu vereinen. Auf dieser Basis können wir viel dazu beitragen, die Fragen der Osterweiterung der EU zu lösen und den Transformationsprozess zu begleiten. Besonders wertvoll sind hierbei natürlich die Erfahrungen, die die Bürgerinnen und Bürger in den Neuen Bundesländern sammeln konnten, denn sie können dazu beitragen, die Brücke zwischen Ost und West zu befestigen und das Trennende zu überwinden. Ganz intensiv arbeiten wir zum Beispiel an grenzüberschreitenden Kulturbegegnungen, die einen Überblick über die aktuelle Kunst in den einzelnen Ländern liefern sollen, denn auch Kunst kann zu einem besseren Verständnis und zum Abbau von Missverständnissen beitragen. Es ist unsere Aufgabe, die Zukunft gemeinsam, friedlich und in gegenseitiger Achtung zu gestalten. Wir müssen die Erfolgsgeschichte des europäischen Vereinigungsprozesses in den ost- und südeuropäischen Ländern fortschreiben. Wir besitzen gemeinsam die Pflicht, das Erbe der traditionsreichen Kulturlandschaften Europas zu pflegen und zu mehren. Europa ist mehr als ein Binnenmarkt. Die kulturelle Identität Europas bietet erst die geeignete Basis für wirtschaftliches Interesse.

3. Welche Rolle sehen Sie für Deutschland in der Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit?

Die Erweiterung der Europäischen Union ist aus kultureller Sicht die größte Herausforderung des neuen Jahrhunderts. Deutschland, als Nahtstelle zwischen Ost und West, bemüht sich daher sehr diesen Austausch auf europäischer Ebene zu fördern und mitzugestalten. Es geht darum, zu erkennen, was uns einst verbunden hat. Kulturelle und historische Verbindungen, die in Jahrhunderten gewachsen sind, müssen wieder aufgenommen werden. Wir wissen noch immer viel zu wenig über unsere Nachbarn. Die europäische Öffentlichkeit hat dabei die elementare Aufgabe, ihre Wahrnehmung immer wieder zu überprüfen. Wir müssen uns die Fähigkeit aneignen, europäisch zu denken. Eine Intensivierung des interkulturellen Dialogs ist da besonders wichtig. Europa ist eine Herausforderung für uns alle und unser aller Aufgabe.

4. Kultur kann sowohl Verbindung als auch Grenze sein. Daraus könnte sich ein Dilemma für den europäischen Integrationskontext entwickeln, mit Auswirkungen auf konkrete Probleme europäischer Zusammenarbeit. Wie äußern sich derartige Probleme in Ihrem Arbeitsbereich auf europäischer Ebene?

Kultur kennt keine Grenzen - im Gegenteil! Ich wäre glücklich, wenn sich überall auf der Welt Probleme so leicht - und so kulturvoll!- lösen ließen wie im Bereich der Europäischen Kulturpolitik.

5. Wo und wie sehen Sie die Grenzen Europas?

Kulturell gesehen gibt es keine Grenzen in Europa. Kartographische Grenzen sagen deshalb auch nicht viel über die europäische Identität aus, wie die vielfältigen geographischen und politischen Definitionsmöglichkeiten zeigen. Jenes Europa beispielsweise, das durch die Mitgliedschaft im Europarat definiert wird, endet an den Grenzen zu China, Syrien und zum Irak. Zum Europa der OSZE gehören Kanada und die Vereinigten Staaten. Europa als kultureller Raum verläuft nicht in den Grenzen der Europäischen Union. Es sind die gemeinsamen Werte und die Kultur die Europa definieren.

6. Und zum Schluss haben wir noch eine persönliche Frage: Können Sie uns eine Situation schildern, in der Sie sich als Europäerin gefühlt haben?

Wer beruflich in Budapest, Krakau, Prag oder Zagreb zu tun hat, wird feststellen, wie gut manche Gesprächspartner deutsch sprechen. Wie genau sie über die deutsche und französische Literatur und Philosophie Bescheid wissen, ja, geradezu mit ihr gelebt haben, wie genau sie sich in Heideggers später Seinslehre auskennen. Im Gespräch mit den Menschen dort habe ich mich insbesondere als Europäerin gefühlt. Interesse füreinander zeigen, die Sprache des anderen erlernen, ganz selbstverständlich die anderen europäischen Länder bereisen macht für mich Europa aus.

Marie Fabiunke, 18.04.2005

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Heimat_Moderne, Experimentale1 in Leipzig

Fern ab von Bach, Buchmesse und Bahnhof formiert sich in Leipzig in diesem Jahr ein spannendes
und viel versprechendes Ereignis - die Experimentale 1.
In drei Etappen eröffnen fünf leipziger Gruppen und Institutionen neue Perspektiven auf ihre Stadt
und Stadt-Geschichte. Das ganze findet statt auf allen kulturellen Ebenen: Musik, bildenden
Kunst, Architektur, Stadtplanung, Theater und Film. Unter dem Titel "Heimat_Moderne" wird
die Stadt mit ihrem eigenen Erbe konfrontiert und neu befragt. Im März und April wird dies
zunächst im "Musikviertel" geschehen, das selbst beeindruckendes und architektonisches
Zeugnis städtebaulicher Dynamik ist: denn wer in Leipzig schon einmal hier spazieren ging,
dem wird das skurrile Nebeneinander von Gründerzeitbauten, Wohnscheiben und einzelnen
Hochhäusern kaum entgangen sein. Genau mit dieser Spannung arbeitet beispielsweise das
Science-fiction-Hörspiel von Anne König und Jan Wenzel, das die Hörer an der subjektiven
Hand der Figur Filo Maulers durch die Strassen des Musikviertels führt - und diese durch Zeit-
und Raumreise neu erleben lässt.

Scharfe Zeitbrüche, Spannungen und immer wieder die Frage nach dem überhaupt Denkbaren
verbindet die einzelnen Projekte in ihrer Auseinandersetzung mit Geschichte und
Geschichten. Dabei beinhaltet der Topos "Heimat" in diesem Projekt keine harmonisierte

Vorstellung eines integren Ortes. Vielmehr trägt sich dieser Begriff hier gerade durch die
Auseinandersetzung mit dem Verworfenen des einst Lebendig- und Verheißungsvollen.
Durchleuchtet wird in diesem Projekt das (städtebauliche) Erbe der sozialistischen Moderne -
nicht um nostalgischer Sehnsucht zu erliegen, sondern um die Fantasien und Wünsche
wieder zu finden, die in der Moderne noch denkbar waren. Es geht hier um die Suche nach
einem anzutretenden Erbe, das noch Utopien und noch keine Unmöglichkeiten kannte -
ohne dem autoritären Gestus der Moderne zu verfallen, aber eben auch
"jenseits postmoderner Abgeklärtheit", wie es dazu im Programmheft heißt. Es geht um das Potential
der Moderne, nicht um deren Prophetie, Gesellschaftliches neu zu denken und darum, sich mit
der Aktualität eines Erbes auseinanderzusetzen, das in Deutschland allzu gern gemieden wird.
Diesem Deckmantel des Schweigens macht die Experimentale einen Strich durch die
Rechnung. Die Stadt Leipzig, die im letzen Jahrzehnt eine Image-Politik betreibt, die sich auf
Tradition und Schöngeist besinnt, wird in diesem Sommer Schauplatz eines Ereignisses, auf das
sie ihr Augenmerk richten sollte. Denn nicht nur ist das Programm spannungsreich
unterhaltungsvoll, noch vielversprechender ist das Bündnis, das hier eingegangen wird. Es
handelt sich hier um ein gutes Beispiel möglicher Kulturstrategien, die die Zukunft mehr und
mehr erfordern wird. Ein offenes Netzwerk lokaler Protagonisten, die sich zusammen finden,
ergänzen und austauschen. Nicht wegen der viel besungenen Synergieeffekte, sondern um
sich Themen und Fragestellungen zu widmen, die in einer repräsentationsorientierten Stadt-
und Kulturpolitik keinen Platz und keine Gelder finden. Mit der Gründung eines gemeinsamen
aber autonomen Trägers wurden die Gelder in diesem Fall von der Kulturstiftung des Bundes
erworben.
Strohfeuer statt Leuchttürme. Das was im Berliner Volkspalast zentral gelenkt, scheint hier sein
lebendiges - und agileres - Gegenstück zu finden… Es bleibt zu hoffen, dass sich in diesem
offenen System über dieses Jahr hinaus weitere Konstellationen und Kräfte finden, um dieser
spannenden und spannungsreichen Stadt alle Geheimnisse und Erbschaften zu entlocken -
denn derer ist sie reich.


Veranstalter: Experimentale e.V. / Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig, raum4, Forum Zeitgenössischer Musik Leipzig e.V., Büro für urbane Projekte, General Panel.

Homepage: www.heimatmoderne.de

Nina Brodowski, 18.03.2005


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Kein Grund zum Pessimismus, es gibt ja noch die Kultur!

Eine Kultur der Beliebigkeit und Mittelmäßigkeit lähmt Deutschland. Wir sitzen in einer selbstverschuldeten Falle der Eitelkeiten und Rechthaberei und kritisieren bis zum Erbrechen die allgemein herrschende Ratlosigkeit. Manche von uns suchen nach Sündenbocken andere zeigen ehrliche Betroffenheit und wenn es ernst gemeint ist, beauftragen wir Expertenausschüsse, damit das Problem laut- und klanglos vom öffentlichen Diskurs entsorgt wird.
Wenn das alles nicht mehr hilft … dann kommt der zur Bedeutungslosigkeit entmachtete Begriff Kultur! Kultur als die Rettung vom Kulturpessimismus?

Der Schrei nach Kultur in schlechten Zeiten soll die Hoffnung auf gute Zeiten inszenieren, denn allein ihr Begriff beseelt die erstarrte Welt mit der Erinnerung von Erhabenheit und individueller Freiheit. Europa eine Seele geben hieß zum Beispiel der symphonisch formulierte Auftakt einer Berliner Veranstaltung, präsentiert und gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes mitten in hoffnungslos konjunkturschwachen Zeiten. Es verging nicht viel Zeit bis der europaferne und trostlose Berliner Alltag zurückkehrte. Man brauchte nicht viel Fantasie um zu erkennen, dass das Ziel nicht unbedingt Europa eine Seele zu geben war, sondern Deutschland von seiner inszenierten Misere abzulenken.
Nun treten scheinbar die Intellektuellen, als die letzte Garde der Kräfte heran, um endlich Tacheles zu reden. Sie kritisieren die Kultur und die Wissenschaft, dämonisieren Dekonstruktion und intellektuellen Avantgardismus, der Kreis schließt sich, wir sind wieder Gefangene unserer Kultur.

Kultur hat ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten. Mehr als ein Begriff ist sie die unerschöpfliche Bewegung des menschlichen Tuns und Gestaltens. Deshalb greifen wir nach ihr
em Begriff sobald unser Tun und Gestalten bewegungslos geworden sind, sobald ein Taubheitsgefühl unseren kulturellen Körper heimsucht. Ihre Dynamik macht es uns schwer die Sinnsequenzen zu begreifen, was nicht bedeutet, dass sie sinnlos ist.
Die Kultur sind wir, sie ist durch uns von uns und für uns.
Sie ist sowohl unsere geistige Tätigkeit, das Gefühlsarchiv wie auch unmittelbares Arbeitsprodukt, so sind ihre Bedeutungsschichten auch die unserer kollektiven und individuellen Sinnwelten.

Die Erlösung aus der allgemeinen Starrheit ist nicht durch standardisierte Formen zu erreichen; um mit dem Spiel der Kultur Schritt zu halten brauchen wir vor allem einen analytischen Blick und unerschöpfliche Erfindungskraft, zwei Eigenschaften, die wir vor allem durch Bildung, Forschung und Ausbildung forcieren können. Denn wie John Dewey bereits formuliert hat "Creation, not acquisition, is the measure of a nation's rank; it is the only road to an enduring place in the admiring memory of mankind."
Deshalb muss die Politik die Rahmenbedingungen für den freien Lauf der Erfindungskraft schaffen und nicht im Namen und auf Kosten der Kultur Politik machen.

Elize Bisanz (17.03.2005)


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Deutsch-deutscher Einigungsprozess auf neuer Stufe:
Schlagabtausch auf dem Weg Richtung Boden der Tatsachen?


Von heutiger Warte fällt es zweifelsohne schwer, das Bild der `blühenden Landschaften´ aus den frühen Stunden deutscher Einigungseuphorie wachzurufen. Die Worte vom `Vollzug der Einheit´ deuten an, dass sich Politiker beider Seiten bereits am Ziel glaubten. Die Kassandrarufe Christa Wolfs wie Günter Grass´ wurden überhört.

Warum es vielleicht gerade die Literaten waren, die Weitblick bewiesen, mag Musils Überlegung zur `perspektivischen Verkürzung des epischen Verstandes´ erklären: Die Geschichte einer Trennung muss in der Vereinigung ihr glückliches Ende finden. Ein uraltes Erzählmuster, das schon von den Alten Griechen gesponnen wurde. Helden wie etwa Leukippe und Kleitophon treffen aufeinander, verlieben sich, um kurz darauf vom Schicksal getrennt zu werden und einer Kette von Abenteuern ausgesetzt zu sein. Als einziges Ziel die Vermählung vor Augen, die als sie immer unwahrscheinlicher wird auch erfolgt. Die Abenteuerzeit hat keine Spuren hinterlassen. Unverändert treten sie vor den Traualtar.

Nur für die Geschichte der deutschen Wiedervereinigung hätte sich wohl Voltaires berühmte Parodie dieses Musters besser geeignet. Im Candide hat der Autor die Zeit der Abenteuer berechnet und lässt Kunigunde und Candide gealtert und gezeichnet die Ehe schließen. Doch während Candide sehr direkt ausspricht, dass das Traumbild in seiner Verwirklichung gänzlich anders ausschaut, stellte es im geeinten Deutschland lange Zeit ein Tabu dar, öffentlich über die Veränderung des `Anderen´ zu sprechen. Die `andere´ Vergangenheit, das betraf die DDR-Vergangenheit, wurde jenseits von `Aufarbeitung´ in Schweigen gehüllt, um die `Einheit´ nicht zu stören. Erst Jana Hensel leitete mit ihrem Essay Zonenkinder (2002) die Wende ein. Der Boom der Ostalgieshows (2003) konnte schließlich zu Normalisierung und gleichberechtigtem Nebeneinander von Pop-Gymnastik und Dance Aerobic beitragen. Doch wie Wolfgang Herles Polemik Wir sind kein Volk (2004) nahe legt, sieht die Wirklichkeit anders aus als die Fernsehwelten: Wir sind noch immer nicht angekommen - im Gegenteil. Anstatt einer Annäherung zeigt die Demoskopie ein fortwährendes Auseinandertriften von Ost und West an, Unmut gar Wut wachsen auf beiden Seiten. In Form einer "längst fälligen Abrechnung unter Brüdern und Schwestern" geben Michael Jürgs und Angela Elis den deutsch-deutschen Befindlichkeiten jetzt eine Stimme. Im Schlagabtausch werden die unbequemen Wahrheiten wie "Ihr habt uns belogen" vs. "Ihr habt uns ausgesaugt" ausgesprochen. Was nach Ehekrach im Hause Deutschland klingt, wirft die Frage auf, ob sich hier ein lange aufgestautes Gewitter entlädt und die Luft danach klarer werden lässt. Sind wir dem Boden der Tatsachen ein Stück näher gekommen? Fatal wäre es allerdings, wenn sich die Seiten im Streit verstricken und ein typisch Ossi - typisch Wessi fester schreiben als es vielleicht ist. Eine Schwarz-Weiß-Malerei kennt keine Graustufen, kennt kein pOst-West.

Wer Voltaire gelesen hat, der kennt jedoch die weisen(den) Worte Candides: "Wohl gesprochen, aber wir haben in unserem Garten zu arbeiten."


Michael Jürgs/ Angela Elis
IHR IM OSTEN, IHR IM WESTEN
Eine längst fällige Abrechnung
C.Bertelsmann
Februar 2005

Melanie Fröhlich (5.03.2005)


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Das Museum über Europa wird 2007 Realität - und leistet einen weiteren Beitrag zu europäischer Identitätsbildung

Seit Jahren in aller Stille geplant, soll das "Musée de l'Europe" im Jahr 2007 zum fünfzigjährigen Jubiläum der Römischen Verträge in Brüssel eingeweiht werden, direkt vor dem Sitz des Europäischen Parlamentes. Der ihm zugewiesene Auftrag wird sein, den europäischen Einigungsprozess darzustellen. Das impliziert die Geschichte der Europäischen Union seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, geht jedoch auch zurück bis zur Einheit des Christentums, behandelt die Religionskriege, die Bewegung der Aufklärung sowie europäische ideologische Kriege. Das Europa der Europäischen Union soll darüber hinaus in seiner Entstehung und Entwicklung als Gegenstand der bewahrenden Betrachtung dargestellt werden, die Besucher als europäische Staatsbürger ansprechen. Es wird darüber hinaus erläutern, in welcher Weise das nationale Selbstverständnis und nationale Traditionen in der Europäischen Union einen neuen Bezugspunkt gefunden haben. Die Ausstellungsfläche von 6.000 Quadratmetern wird sich in eine 2.000 Quadratmeter große Dauerausstellung mit variablen Plätzen sowie in eine Abteilung mit Wechselausstellungen gliedern. Die jährliche Zahl von 400.000 Besuchern des Brüsseler EU-Viertels lässt dabei auf eine hohe Besucherzahl des Museums schließen. Finanziell gespeist wird das "Museum Europas" zum einen vom belgischen Staat, zum anderen aber auch von gegenwärtig achtzehn Sponsoren, unter ihnen BASF, von belgischen Stiftungen sowie von dem Europäischen Parlament und der Kommission. Die ständige Erweiterung, der Integrationsprozess macht ein derartiges Vorhaben für die Europäische Union schon längst erforderlich, ein stärkeres Bemühen zur Selbstbenennung notwendig. Das Museum wird hierbei einen zentralen Beitrag leisten.

Den zündenden Gedanken respektive die dafür notwendige Initiative ergriff vor einigen Jahren Benoît Remiche, der in der Europäischen Kommission und als Vorstand der Belgischen Telekom tätig war. Er begeisterte für das "Musée de l'Europe" Politiker wie die belgische Ministerin Antoinette Spaak, die Tochter des großen Europäers Paul-Henri Spaak, sowie den ehemaligen Vizepräsidenten der Europäischen Kommission, Karel Van Miert. Zusammen gründeten sie eine Vereinigung, die dem Vorhaben eine juristische Form gab. Ein wissenschaftliches Komitee begleitet dieses. Um das Museumsprojekt hat sich ferner ein Ring von europäischen Museen gebildet, darunter das Deutsche Historische Museum in Berlin, das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn und der Maison Jean Monnet in Paris.

Christina Frank (23.01.2005)
Weitere Quellen: Faz, 10.12.2004

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Witzige Bilderkonferenz? - zur Eröffnung des neuen Leipziger Museums der bildenden Künste

Witzig und heiter soll es nach der Zeit (2.12.2004, Nr. 50) im neuen Leipziger Museum der bildenden Künste zugehen: Anstatt das Nebeneinander von Tintoretto, El Greco und Tübke als ernsthaftes Fragen nach Vergangenheit und Gegenwart zu lesen, sieht die Zeit dieses Fragen "mit subversivem Witz variiert, was dem Betrachter nicht nur Vergnügen bereitet, sondern auch seine eigenen kombinatorischen Kräfte aktiviert."
Man kombiniere: Im Untergeschoss des neu eröffneten Leipziger Museumsbaus begegnen sich unter dem Titel "Die Konferenz der Bilder" Werke aus dem östlichen und westlichen Teil der Republik. Fast etwas zu didaktisch erleichtert die Bezeichnung "Konferenz der Bilder" das Kombinieren. Unweigerlich wird damit ein Bedeutungsnetz aufgespannt, in das das Ereignis Bilderstreit mitsamt seinen verschiedensten Elemente (Gerichtsverhandlungen, Schlagabtausche in Presse und Besucherbüchern usw.) eingeknüpft ist bzw. sein sollte. Doch der Wink mit dem Zaunpfahl scheint nicht kräftig genug.
Zugeben die Phase der offenen Konfrontationen hat sich gelegt, sensationelle Kraftausdrücke sind kaum mehr zu erwarten. Doch muss nicht gleich Heiterkeit und Witzigkeit aufkommen. Vielmehr wird im neuen Leipziger Museumsbau ein kultureller Prozess, vor allem der letzen 15 Jahre, in das Feld einer breiteren Sichtbarkeit gerückt.
Es geht um die sich als irrtümlich erwiesene Auffassung, sich sowohl der eigenen als auch der anderen Vergangenheit zu entledigen. Einst zu vorschnell und unbedacht als Staatskunst abgekanzelte künstlerische Ausdrucksformen werden wieder in die Zeit und in einen neuen Zusammenhang gesetzt, was vor allem für die Gegenwartskunst und deren Suche nach neuen Formen relevant ist. Genau in dem Überschreiten der kulturellen dichotomischen Ost-West-Muster, die sich vor allem im Bilderstreit deutlich abzeichneten, ist die Bedeutung der sogenannten neuen Leipziger Schule zu suchen. Verständlich ist somit ihre besondere Position innerhalb der neuen Ausstellungsarchitektur.
Im Leipziger Museum zeugt die Kunst und ihre Repräsentation von der Möglichkeit einer Konferenz zwischen unterschiedlichen Vergangenheiten und den sich daraus ergebenen, bereits beschrittenen Perspektiven. Offen bleibt die Frage, ob die gesellschaftliche Entwicklung der Kunst in ihrer Vorreiterrolle folgen wird. Auch wenn die Zeit "die Spannung beim Zusammentreffen von Daniel Richter (Gegenwart, Hamburg) und Neo Rauch (Gegenwart, Leipzig) entsorgt" sieht und die Studio-Begegnung zwischen Klinger und Kumrow als produktive Heiterkeit beschreibt, scheint dies noch nicht für den allgemeinen gesellschaftlichen Zustand bezeichnend.
Um nochmals auf die Aktivierung der kombinatorischen Kräfte der Besucher zurückzukommen: Es versteht sich von selbst, dass das in Leipzig Wahrzunehmende über eine deutsch-deutsche Problematik hinausgeht. Man kombiniere: Der in Deutschland vor 15 Jahren beginnende Annäherungsprozess findet in komplexeren Dimensionen auf europäischer Ebene statt. Das Auseinandersetzen mit verschiedenen Vergangenheiten und somit auch Gegenwarten ist Voraussetzungen für eine offene europäische Identität, die nicht den Weg einer Konstruktion durch den Ausschluss eines Anderen und Fremden einschlägt. Die momentanen Ereignisse zeigen, dass Begriffe wie Heiterkeit und Witzigkeit alles andere als zutreffend sind.

Marlene Heidel (12.12.2004)

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Kulturpolitik aktiv betreiben - Holberg-Preis für Julia Kristeva

Dass mit der Vergabe von Auszeichnungen aktiv Politik betrieben werden kann, beweist die aktuelle Verleihung des Holberg-Gedächtnispreis an Julia Kristeva. Der erstmalig von der norwegischen Ludwig-Holberg-Stiftung vergebene und mit einer halben Million Euro dotierten Preis wurde ihr für außerordentliche Leistungen zwischen Kultur-, Literaturwissenschaft und Linguistik zugesprochen. Kristeva habe die feministische Theorie gefördert und die Geisteswissenschaften in ihrer Gesamtheit beeinflusst, so die Jury. Die französische Philosophin leitet zur Zeit die Abteilung "Science des textes et documents" an der Universität Paris VII.

Christina Frank (08.12.2004)


    "Aber das grundlegende Problem, das diese Arrangements hemmt, die Juristen und Politiker unter dem wechselnden Zwang nationaler ökonomischer Erfordernisse dabei sind einzurichten, ist eher psychologischer, wenn nicht metaphysischer Art. Da ein neues gemeinschaftsstiftendes Band fehlt - eine Heilsreligion, die die Masse der Umherirrenden und Differenten in einen neuen Konsensus einbinden würde, einen anderen als den von‚ mehr Geld und Güter für alle -, sind wir das erste Mal in der Geschichte dazu gezwungen, mit anderen, von uns gänzlich Verschiedenen zu leben, und dabei auf unsere persönlichen Moralgesetze zu setzen, ohne dass irgendein unsere Besonderheiten umschließendes Ganzes diese transzendieren könnte. Eine paradoxe Gemeinschaft ist im Entstehen, eine Gemeinschaft von Fremden, die einander in dem Maße akzeptieren, wie sie sich selbst als Fremde erkennen. Die multinationale Gesellschaft wäre somit das Resultat eines extremen Individualismus, der sich aber seiner Schwierigkeiten und Grenzen bewusst ist - der nur Irreduzible kennt, die bereit sind, sich wechselseitig in ihrer Schwäche zu helfen, einer Schwäche, deren anderer Name unsere radikale Fremdheit ist."

    (Julia Kristeva Fremde sind wir uns selbst)


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Zwei Fliegen mit einer Klappe…im zweiten Anlauf.
Die neue EU-Kommission und der Europäische Verfassungsvertrag


Die neue EU-Kommission ist ins Amt gewählt - und die Unstimmigkeiten über die Personalfragen und die Divergenzen zwischen Kommission und EU-Parlament - nennen wir sie ruhig Machtkämpfe - sind schon fast vergessen.

Ein kurzer Blick zurück eröffnet einen Einblick in die aktuelle politische Wirklichkeit der EU:

Die Zeit, an dem die Diskussion über die Barroso-Kommission ihren Höhepunkt erreichte war gleichzeitig der Moment, an dem der Europäische Verfassungsvertrag von den europäischen Staats- und Regierungschefs unterzeichnet wurde. Die Unterzeichung am 29.10. in Rom wurde von europäischen Politikern als historischer Moment gefeiert. Neben aller klangvoller Rhetorik, zeigt sich hier, dass sich die Europäer- oder zumindest die von Ihnen gewählten Politiker - einig sind über die gemeinsamen Grundlagen der Europäischen Gemeinschaft; vor einigen Jahren wäre dies noch undenkbar gewesen.

Gleichzeitig stritten die europäischen Politiker über Personalfragen der ersten Barroso-Kommission und dabei gleichzeitig über die Machtverhältnisse der europäischen Institutionen - Parlament gegen Kommission. Und das, obwohl unser Bundeskanzler Gerhard Schröder den Streit beschwichtigen wollte, und sich für eine EU nach den drei Leitprinzipien Friede, Freude, Eierkuchen einsetzte. Die Fronten des Streits über das Team der Kommission verliefen nicht an nationalen, sondern an (partei-) politischen Grenzen nach dem bekannten Rechts-Links-Schema - die Integration einer europäischen parlamentarischen Streitkultur erscheint in der Praxis einfacher als theoretisierende Euro-Skeptiker behaupten.

Mit einem neuen Team, einem neuen Anlauf - und drei Wochen Verspätung- wurde die Kommission des Herrn Barroso vom Europäischen Parlament (EP) angenommen. Und dabei zeigte sich: Der Wind im Parlament weht von rechts, vor allem Konservative und Liberale konnten sich in der neuen Kommission verwirklicht sehen, Grüne und Linkssozialisten stimmten mehrheitlich gegen die neue Kommission, die Sozialdemokraten gaben insgesamt kein geschlossenes Votum ab, sondern verteilten sich solidarisch auf die Lager Zustimmung, Ablehnung und Enthaltung. Das EP geht insgesamt als Sieger hervor, denn mit dem Votum für die zweite Barroso-Kommission ist gleichzeitig eine Ausweitung der parlamentarischen Kontrollrechte verbunden.

Wie geht es nun weiter? Die neue Kommission will, so Barroso, so schnell wie möglich mit der Arbeit beginnen und kann sich dabei der kritischen Aufmerksamkeit des EP gewiss sein.

Und die Verfassung? Nachdem sich die europäischen Staats- und Regierungschefs auf den Verfassungsvertrag geeinigt haben, steht nun der erste Ratifizierungsdurchlauf an. Dafür sind zwei Jahre vorgesehen, die EU-Verfassung könnte also frühestens im November 2006 in Kraft treten - zumindest teilweise. Einige Regelungen wie die zur Zusammensetzung der künftigen EU-Kommission sollen nach bisherigem Stand ohnehin erst ab 2009 gelten.

Ob die Europäerinnen und Europäer sich mit Ihrer zukünftigen Verfassung identifizieren, wird davon abhängen, ob sich um diese Frage eine öffentliche Debatte [link: http://europa.eu.int/futurum/] entfachen wird. Hier werden die kommunikativen Impulse der EU-Institutionen und -Politiker gefragt sein. In diesem Sinne wird die schwedische EU-Kommissarin Margot Wallström das neu geschaffene Ressort "Institutionelle Beziehungen und Öffentlichkeitsarbeit" übernehmen und soll dabei vor allem für Akzeptanz für die europäische Verfassung in den nationalen und der europäischen Öffentlichkeit zu werben - oder sie zumindest um öffentlichen Kommunikationsraum platzieren.

Man darf gespannt sein!

Marie Fabiunke (23.11.2004)


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Der deutsche Pavillion der Architekturbiennale - Architektur ist nicht zum Lachen!



Bravo Miss Furguson - Sie haben Architektur gekonnt platt gemacht! Der deutsche Pavillon der Architekturbiennale in Venedig beeindruckt mit seinen riesigen Kollagen in Form von Panoramabildern, es wird versucht die komplexe Struktur der Stadt mit all ihren Lichtungen und Sackgassen zu inszenieren. Wie soll eine Zweidimensionalität, was Kollagen und jegliche Arten von Bildern nun einmal sind, Architektur vermitteln oder gar erläutern? Ein bloßes Bild von Architektur ergibt aber keine Architektur. Wird hier nicht versucht, mit architekturfremden Aktionen zu verschleiern, von dem eigentlichen Problem abzulenken? Nämlich, daß die neue Generation der Architekten leider ihr Handwerk zum Großteil selbst entwerten, nur um sich nicht noch größeren und den eigentlichen Konflikten zu stellen? Philip Johnson hat einmal gesagt, eine Ausstellung sei mit Abstand die beste Methode, dem Publikum auf einleuchtende Weise alle Aspekte einer neuen Stilrichtung zu präsentieren. Weiterhin sagt er, "die Entwicklung einer konstruktiven Kritik und Diskussion hängt davon ab, ob man dem Publikum Kenntnisse der heutigen Leistungen auf diesem Gebiet vermittelt." Aber kann eine Kuratorin, die übrigens nicht die Ausbildung einer Architektin genossen hat, überhaupt in der Lage sein, dieses zu erreichen? Überraschend, erfinderisch, mutig, spielerisch, neuartig und auch humorvoll beschreibt der Sponsor, das Bundesministerium für Verkehr, die Ausstellung "Deutschlandschaft". Die Abwendung vom elitären, humorfreien Ästhetizismus wird gelobt. Doch was ist das für ein Mut, wenn man sich mangels Kenntnissen von jeglichen architektonischen Methoden und Produktionsweisen abwendet und stattdessen zu künstlerischen Kollagen zurückgreift? Und wieso sollte Architektur humorvoll sein? Um bei dem Besucher gut anzukommen? Ist dieses Adjektiv der Architektur überhaupt würdig? Ich glaube nicht. Architektur soll nicht amüsieren oder gar zum Lachen bringen, es sei denn unsere Gesellschaft ist zum Lachen, denn Architektur ist nur Produkt einer reflexiven Auseinadersetzung mit sich selbst, eingebettet in der jeweiligen Gesellschaft. Wir müssen endlich begreifen, dass Architektur ihre eigenen Mittel hat, ihre eigene Sprache hat, um sich selbst auszudrücken. Und solange wir dieser Sprache nicht mächtig sind, solange wir das Architektur-ABC nicht erlernt haben, sollten wir unsere Finger davon lassen.

Vart Bisanz (12.11.2004)


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Jelineks Nobelpreis ein Volltreffer - die Zeit voll getroffen!


"for her musical flow of voices and counter-voices in novels and
plays that with extraordinary linguistic zeal reveal
the absurdity of society's clichés and their subjugating power"
(Das Schwedische Nobelpreiskomitee)


"Wenn man den Preis als Frau bekommt, dann kriegt man ihn
auch als Frau, und kann sich nicht uneingeschränkt freuen."
(Elfriede Jelinek)



Es brauchte kaum hellseherischer Kräfte, wie die Reaktionen auf die Nobelpreisnominierung Elfriede Jelineks beweisen, muss die Freude eine getrübte bleiben. Nur, dass der frauenfeindlichste aller Artikel ("Die Heilige der Schlachthöfe", in: DIE ZEIT Nr.43, 14. Oktober 2004) von einer Frau kommen muss, stimmt bedenklich. Auch wenn es sich hierbei um Iris Radisch handelt, die - wie wir erinnern - nach bekanntem Eklat kein Problem hatte, als Quotenfrau für Sigrid Löffler dem Literarischen Quartett beizutreten.

Die Revolution frisst ihre Kinder, wenn Radisch der Nobelpreisträgerin Menschenfeindlichkeit unterstellt. Mit Lebensarmut beginnend, gipfeln die Abwertungen der Person Jelineks schließlich in dem Bild einer Müllproduzentin, die Erfahrungen aus zweiter Hand verkauft (denn fernsehsüchtig ist die Jelinek auch!). Dabei verwechselt die Kritikerin allzu oft Leben und Werk, reißt Aussagen der Autorin aus jeglichem Zusammenhang, um die Fetzen (die lediglich sich selbst illustrieren) ein entstelltes Bild abgeben zu lassen. Menschenverachtend ist aber vor allem, wenn Radisch in den Werken Jelineks nichts anderes sehen will als Verzweiflungstaten. So lautet der konstruierte biographische Zusammenhang (direkt neben dem Bild der Autorin positioniert): "1967 erleidet sie einen Nervenzusammenbruch und beginnt zu schreiben." Doch Frau Radisch sei für ihr blindwütiges Um-Sich-Schlagen entschuldigt, ihr Geständnis ist dem Artikel als Aufhänger mitgegeben: "Der Literaturnobelpreis für Elfriede Jelinek ist ein Schock, von dem sich noch niemand ganz erholt hat."

Dass die Bedeutung der Werke Jelineks jenseits der Vita der Autorin und eines österreichischen Regionalismus aufzuspüren ist, erklärt die Begründung des Schwedischen Nobelpreiskomitees eindrucksvoll. Und deshalb erhält Elfriede Jelinek den Nobelpreis für Literatur, nicht weil sie eine Frau ist und noch weniger, weil Karl Kraus und Thomas Bernhard leer ausgegangen sind.

Wir gratulieren Elfriede Jelinek zum Nobelpreis 2004.

Melanie Fröhlich (18.10.2004)

Link zu Elfriede Jelineks Nobelvorlesung


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Abschied vom Derrida, dem Philosophen des lebendigen Denkens

In seinem letzten Gespräch in Lettre Internationale begegnet Derrida der Unausweichlichkeit des Sterbens mit der Unerschöpflichkeit der lebendigen Philosophie:

"Nein, ich habe niemals leben-gelernt. Ganz und gar nicht! Zu leben lernen, das müsste bedeuten, zu sterben lernen, zu lernen, der absoluten Sterblichkeit (ohne Heil, weder Auferstehung noch Erlösung - weder für sich selbst noch für den anderen) Rechnung zu tragen, um sie zu akzeptieren. Seit Platon lautet der philosophische Imperativ: Philosophieren heißt sterben lernen."


Der Titel Derridas Vorlesungen und Seminare für das Wintersemester 2004-2005 lautete Questions de responsabilité: Le parjure et le pardon. La peine de mort. La bête et le souverain. Jeder der ihn an der l'ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales erlebt hat, kennt die ansteckende Lebenskraft seiner Stimme. Eindringlich und behutsam hat uns der große Denker in das Wunderland des philosophischen Ereignisses geführt, heftige Kritik stets mit einem beruhigenden Lächeln erwidert und in großer geduldiger Ruhe die Unverzichtbarkeit der dekonstruktiven Arbeit vorgelebt. Sie werden sich seine Abwesenheit im Hörsaal 105 bd Raspail nicht vorstellen können. Derrida lesen ist das Erfahren des Denkrhythmus, Derrida hören war immer das Gestalten der Denkarchitektur.

Derridas Abschied markiert auch eine Ankunft an der Dekonstruktion. Wohin geht der Weg? Wo finden wir ihre Spuren?

"Was ich ‚Dekonstruktion' nenne, ist, selbst wenn es gegen irgend etwas an Europa gerichtet ist, europäisch, es ist ein Produkt, ein Selbstbezug Europas als Erfahrung der radikalen Andersheit. Seit der Aufklärung ist Europa in permanenter Selbstkritik begriffen, und in diesen vervollkommungsfähigen Erbe liegt eine Zukunftschance. Zumindest hoffe ich das, und genau dies nährt meinen Unwillen gegenüber Reden, die Europa definitiv verdammen, als wäre es einzig der Ort seiner Verbrechen."

Mit diesem letzten Satz zu Europa, in seinem letzten Interview, reicht uns Derrida die Verantwortung der dekonstruktiven Arbeit für die Zukunftschance Europas weiter.

Elize Bisanz, 18.10.2004


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