K
ulturwissenschaftliches
Institut für Europaforschung
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SEISMOGRAPH
Wind of Change für den
"Tag der Deutschen Einheit"
(16.10.2007, Marlene Heidel)
Warten bis die Amerikaner kommen! Zu Nemescus "California Dreamin´" (2006)
(13.06.2007, Melanie Fröhlich)
Schweigen ist feige: Der
europäische Verfassungsvertrag in der deutschen und
französischen Öffentlichkeit
(19.02.2007, Marie Fabiunke)
Cool! - Die englische Übersetzung
von Lotmans „Kultura i vzryv“ erscheint
2007.
(10.02.2007, Marlene Heidel )
Die EU ist mehr als die
Summe der Flaggen ihrer Mitgliedsländer. Eine Antwort an Rem
Koolhaas (18.01.2007, Vart Bisanz)
Europa als
politische Gegenwart und als öffentlicher Raum der Kultur -
Interview mit der Deutschen Welle (30.06.2006, Marie Fabiunke)
Die Öffentlichkeit
und die Grundlagen der Demokratie in Europa (25.03.2006, Marie
Fabiunke)
I love EU?! -
Österreichs Bekenntnis (13.02.2006, Christina Frank)
Das "Nein" der Franzosen -
mehr als eine Kritik an der EU-Verfassung (31.05.2005, Christina Frank)
Der Deutsche Bundestag
ratifiziert den europäischen Verfassungsvertrag - und blickt
nach Paris (20.05.2005, Marie Fabiunke)
Anfang Mai beantwortete das KIE
in einem Interview die Fragen des Radiosenders Deutsche Welle
über aktuelle Probleme und Perspektiven der EU. Das Interview
wurde am 23.5. im Rahmen einer Radiosendung zur europäischen
Verfassung in chinesischer Sprache ausgestrahlt (Mai 2005)
Interview der Staatsministerin
Dr. Christina Weiss mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut
für Europaforschung (18.04.2005, Marie Fabiunke)
Heimat_Moderne,
Experimentale1 in Leipzig (18.03.2005, Nina Brodowski)
Kein Grund zum
Pessimismus, es gibt ja noch die Kultur! (17.03.2005, Elize Bisanz)
Deutsch-deutscher
Einigungsprozess auf neuer Stufe: Schlagabtausch auf dem Weg Richtung
Boden der Tatsachen? (05.03.2005, Melanie Fröhlich)
Das Museum über
Europa wird 2007 Realität - und leistet einen weiteren Beitrag
zu europäischer Identitätsbildung (23.01.2005,
Christina Frank)
Witzige
Bilderkonferenz? - zur Eröffnung des neuen Leipziger Museums
der bildenden Künste (12.12.2004, Marlene Heidel)
Kulturpolitik aktiv betreiben
- Holberg-Preis für Julia Kristeva (08.12.2004, Christina
Frank)
Zwei Fliegen mit einer
Klappe…im zweiten Anlauf.
Die neue EU-Kommission und der Europäische Verfassungsvertrag
(23.11.2004, Marie Fabiunke)
Der deutsche Pavillion der
Architekturbiennale - Architektur ist nicht zum Lachen! (12.11.2004,
Vart Bisanz)
Jelineks Nobelpreis ein
Volltreffer - die Zeit voll getroffen! (18.10.2004, Melanie
Fröhlich)
Abschied vom Derrida, dem
Philosophen des lebendigen Denkens (18.10.2004, Elize Bisanz)
Letzte Aktualisiserung: 16.10.2007 at
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Wind
of Change für den "Tag der Deutschen Einheit"
Die
erste Generation, die ohne die Berliner Mauer aufwachsen durfte, wird
dieses Jahr volljährig und in drei Jahren erwachsen. Die
deutsch-deutsche Gesellschaft wird es voraussichtlich mit dem
Erwachsenwerden im Hinblick auf die Ereignisse vor und hinter der
Berliner Mauer nicht so schnell schaffen. Auch wenn sie es nicht
wahrhaben will, steckt sie doch weiterhin mitten im Prozess der
Selbsterkennung und tut sich immer noch schwer mit einer umfassenden
Reflexion ihres Zustandes und der Distanzierung von Befindlichkeiten.
Anstatt entschlossen zu handeln – und somit beispielsweise
ein
längst fälliges NPD-Verbot zu bewirken –
wird das
jeweilige Andere immer noch gern seiner Unzulänglichkeit
bezichtigt.
Es ist zugleich belustigend und traurig-ernst, dass 17
Jahre nach der deutschen Einheit in einer überregionalen
deutschen Tageszeitung festgestellt wird, dass es an Leuten mangelt,
„die dem in der DDR so gründlich proletarisierten
Osten
Bürgerlichkeit, Christlichkeit zurückbringen
können.“
(F.A.Z, 25. August 2007, Nr. 197, S. 1) Sicherlich ist es keine
präzise Art und Weise, einzelne Sätze ihrem Kontext
zu
entnehmen. Doch kann ein weiteres und letztes Beispiel aus der
gleichen Zeitungsausgabe darauf hinweisen, dass in Sachen Reflexion
des Zustandes der deutsch-deutschen Gesellschaft noch einiges zu tun
ist. Für die im Vergleich zu westdeutschen Altersgenossen
höhere
Gewaltbereitschaft ostdeutscher Jugendlicher wird eine
gewöhnungsbedürftige Begründung geliefert:
„Gerade
weil viele ostdeutsche Jugendliche über stabile
familiäre
Bindungen verfügen, verschonen sie Eltern aus kindlicher
Loyalität und richten ihre Gewalt gegen Fremde.“
(F.A.Z, 25.
August 2007, Nr. 197, S. 8) Aber immerhin ist es löblich, dass
sich die mediale Aufmerksamkeit westlich der Elbe in östliche
Himmelsrichtung bewegt, auch wenn als Aufmerksamkeitsmagnet leider
meist nur Rechtsextremismus und Jugendgewalt funktioniert. Aber
glücklicherweise gibt es den „Tag der Deutschen
Einheit“.
Obwohl es an diesem Tag eigentlich um die Einheit gehen sollte,
etablierte er sich zumindest in den Medien als Tag des Sinnierens
über den Osten, an dem die über das Jahr
versäumte
Aufmerksamkeit schnell wieder nachgeholt werden kann. Doch leider
scheint am Tag der Inspektion Windstille zu herrschen, da die
Luftbewegungen, die das östliche und westliche Sediment
längst
zu einem neuen verwirbelt haben, nicht wahrgenommen werden. Da man,
wie es die beiden F.A.Z.-Zitate andeuten, mit dieser neuen und dazu
noch in Bewegung befindlichen Sedimentsschicht nicht so recht etwas
anfangen kann, wird auf Tiefenbohrung gesetzt, um möglichst
ein
Musterstück prä-marktwirtschaftlicher Zeiten zutage
zu
befördern. Aber für die Tiefenbohrung und deren
Analyse ist
ein Tag nunmal viel zu kurz, vor allem wenn es um die Vergangenheit
geht, in der Täter- und Opferwirklichkeiten entstanden. Egal!
Wie eine solche hastige Inspektion verläuft, konnte am Sonntag
vor dem 3. Oktober in Anne Wills Polittalk verfolgt werden. Die junge
Generation, die sich nicht mehr eindeutig auf „Ost“
und „West“
festschreiben ließ, sondern ein nahezu 1:1-Gemisch aus beiden
darstellt, wurde vorsorglich auf der Couch am Rande der Talkrunde
deplatziert. Antworten durften die Töchter der
„wahren Frau
vom Checkpoint Charlie“ weitgehend nur auf Fragen, die
eindeutig
auf ihre Kindheit in der DDR abzielten. Ihrem Kindergesicht
längst
entwachsen schienen sie jedoch genau aufgrund der Jahre des Wachstums
zu irritieren, die sie weder auf den Boden der DDR noch auf den der
alten BRD festschreiben ließen. Also ab an den Rand, um nicht
die Formation des Talkkreises zu verzerren, die sich aus
wohlbekannten Rollen zusammensetzte und von Anfang bis Ende der
Sendung schön rund blieb. Eine starke Vorliebe für
Windstille zeigte sich auch in der Vorstellung des Wandels
gesellschaftlicher Regime, die von allen Talkgästen
anscheinend
geteilt wurde. In der Sendung tat sich wie in einem Geschichtsbuch
mit undurchlässigen Blättern hinter den Repressionen
der
dunklen DDR Vergangenheit eine neue Seite, eine Epoche der Freiheit
auf. Dabei sind die Blätter an so manchen Stellen transparent.
Sollte doch an die zahlreiche Häftlinge erinnert werden, die
in
der gegenwärtigen BRD aufgrund ihres Wunsches, in der Freiheit
zu leben, in Gefängnissen einsitzen. Finden sich doch
„Abschiebehäftlinge“ häufig genau
hinter den Mauern
wieder (z.B. Justizvollzugsanstalt Bützow als
größtes
Gefängnis in Mecklenburg Vorpommern), hinter denen vor 1989
„politische Häftlinge“ aufgrund des
gleichen
Freiheitswunsches saßen.
Vor der
nächsten
Inspektion sollte die Windstärke im wiedervereinten
Deutschland,
die allemal nicht bei 0 liegt, angegeben werden, um sich besser auf
den 3.10. und seine noch vor uns liegenden Herausforderungen
einstellen zu können.
Marlene
Heidel (16.10.2007)
zurück
Warten bis die Amerikaner kommen!
Zu Nemescus "California dreamin´"
Ein Eisenbahnzug voll mit US-Soldaten und Ausrüstung, der Rumänien Richtung Serbien durchquert. Die Zugfahrt endet an einem Dorfbahnhof wegen fehlender Zollpapiere. Es ist Kosovokrise. Doch der Film geht tiefer, er durchmisst die ganze Tragik des rumänischen Lebens und den Zusammenprall der amerikanischen mit der osteuropäischen Kultur. Was passiert, wenn amerikanische Militärs in einem rumänischen Dorf unfreiwillig stranden? Was passiert, wenn zwei Kulturen, die miteinander selten in direkten Kontakt stehen, aufeinander treffen?
Rumänien - das Land aus dem die guten Filme kommen? Seitdem Cannes 2007 gleich zwei Filmproduktionen aus dem jüngsten EU-Land
ehrte, ist Rumänien kein weißer Fleck für Cineasten mehr. Regisseur Cristian Mungiu erhielt in Cannes die Goldene Palme für
das Gesellschaftsdrama „Vier Monate, drei Wochen und zwei Tage“, das von einer illegalen Abtreibung in der Zeit der
Ceausescu-Diktatur erzählt. Und in der Kategorie „Un certain regard“ war „California Dreamin´ (nesfarsit)“ von Cristian
Nemescu preiswürdig.
Die jüngsten Erfolge des rumänischen Kinos kommen überraschend. Den 21 Millionen Einwohnern stehen gerade einmal 70 Kinos zur
Verfügung. In diesen laufen in der Regel Hollywoodproduktionen. Die rumänische Filmindustrie hatte nach dem Zusammenbruch des
Kommunismus einen Tiefpunkt erreicht. Noch immer gibt es wenig Geld. Reich aber ist Rumänien an jungen Regisseuren, die
gewillt sind, ihre Filmideen auch mit einfachen Mitteln umzusetzen. Nemescus Drama „California Dreamin“ wirft unterschwellig
die Frage auf, wie es überhaupt zur Errichtung der kommunistischen Diktatur kommen konnte und beleuchtet die ganze Tragik des
rumänischen Lebens.
Authentische Bilder, die man nur im Ausland für übertrieben hält
Das Drama des 1979 geborenen Regisseurs spielt 1999 zur Zeit der Kosovo-Krise. Zehn Jahre nach der Revolution, nach dem Ende
des weltspaltenden Systemgegensatzes hat sich nicht allzu viel verändert. Im Juni 1999 begleitet eine amerikanische
Marine-Truppe einen NATO-Zug mit militärischer Ausrüstung vom Schwarzen Meer bis zur serbischen Grenze. Sie haben eine
mündliche Zusage aus Bukarest. Weit kommen sie nicht. Die Zugfahrt endet in einem unbedeutenden Dorfbahnhof wegen fehlender
Zollpapiere. Soweit die reale Begebenheit, die dem Film zu Grunde liegt.
Unvorstellbar? Nicht für den rumänischen Kinogänger. Das Lachen im Kinosaal ist groß über Situationen, die hier jeder so
oder so ähnlich kennt. Es sind authentische Bilder, die in Dogma-Manier über die Leinwand flimmern, die dem ausländischen
Zuschauer aber wahrscheinlich als maßlose Übertreibung erscheinen müssen. Das Problem der Papiere wird bürokratisch gelöst
und ein Fax vom Militärminister Richtung Transportminister gesendet, bis es am Ende in einem großen Papierberg verschwindet.
Auf Rumänisch sagt man dazu „problema se rezolva“, was soviel heißt wie, die Probleme lösen sich – nur muss man warten.
Der Bahnhofsvorsteher hat seit dem Krieg eine Rechnung mit den Amis offen
Der Filmsaal verwandelt sich in einen großen Wartesaal – mit den Amerikanern wartet der Zuschauer darauf, dass sich endlich
etwas bewegt. Doch der eigentliche Wartende sitzt nicht im Zug, sondern er hält ihn an: der Bahnhofschef Doiaru. Der hat
noch eine Rechnung aus dem Zweiten Weltkrieg offen. Doiaru kann die Amerikaner, auf die er (nesfarsit) ohne Ende gewartet
hat, nicht einfach fahren lassen, auch wenn der Grund ihres Kommens mittlerweile ein anderer Krieg ist.
Jeder Tag, den er den Zug aufhält, schließt mit einem Rückblick, bis am Ende als Anklage die Frage steht: Warum seid
ihr nicht gekommen? Doiarus Eltern, Fabrikbesitzer, flohen am Ende des Zweiten Weltkrieges vor den Kommunisten und ließen
ihn mit dem Trost zurück: Wenn die Amerikaner kommen, dann sehen wir uns wieder. Sie kamen nicht, nicht als die Sowjets
kamen, nicht als Ceausescu kam und seine Eltern sah er niemals wieder.
Die nächste Frage, die der Film aufwirft: Was passiert, wenn amerikanische Militärs in einem rumänischen Dorf
unfreiwillig stranden? Was passiert, wenn zwei Kulturen, die miteinander selten in direkten Kontakt stehen, aufeinander
treffen? Nur der Zweite Weltkrieg scheint reale Erfahrungen an die Amerikaner zu wecken. Sie fallen meist vom Himmel, wie
Rückblenden uns glauben machen – in Form von Bomben made in USA oder als Pilot. Der Bürgermeister des Dorfes bewahrt eine
Fotografie vom ersten schwarzen Mann auf rumänischen Boden als Trophäe auf.
Doch es ist nicht nur der Bahnhofschef, der Grund hat, die Amerikaner aufzuhalten. Da die Amerikaner sich so selten
nach Rumänien verirren, ist es jetzt an der Zeit, die eigenen Belange vorzutragen. Die Fabrikarbeiter nutzen den
angekündigten Zug für einen Streik auf den Gleisen mit der Botschaft „Ne' foame!“ (dt.: Wir haben Hunger). Der Bürgermeister
möchte mit der Hilfe der Amerikaner sein Dorf bekannt machen, um wirtschaftlich davon zu profitieren oder wenigsten eine
Partnerschaft mit der Heimatgemeinde des amerikanischen Captains herausschlagen. Die jungen Mädchen träumen beim Anblick
der amerikanischen Soldaten von einem Leben in Amerika. Der rumänische Übersetzer nur von einer amerikanischen Uniform.
Alle legen sich also mächtig ins Zeug. Der Bürgermeister lässt das 100-jährige Dorffest zur Ehren der Amerikaner nochmals
feiern – auch gegen den leisen Einwand: Das war doch schon.
„United“ schreien sie gemeinsam und stürmen das Bahnhofsgebäude
Nemescu gelingt eine unglaubliche Mischung aus authentischen Bildern, die das rumänische Dorfleben einfangen und zur
Satire werden: Das Dorffest gerät zur Wiederauferstehung amerikanischer Kultur, von der Elvis-Parodie bis zum texanischen
Cowboy. Vor dem Hintergrund dieses bunten Treibens wird das Duell um Fahren oder Nicht-Fahren vom Bahnhofschef Doiaru
(Razvan Vasilescu) und dem amerikanischen Captain Jones (Armand Assante) ausgetragen. Jones scheint lange der Unterlegene.
Selbst ein Minister aus Bukarest kann ihm nicht helfen. Erst ein Bündnis mit dem Bürgermeister, der die Macht des zudem
korrupten Bahnhofsleiters, der über ein gewaltiges Depot an verschwundenen Waren herrscht, das ihm den Schutz der Polizei
garantiert, bringt Bewegung ins Spiel. Jones schwört die Dorfbevölkerung auf sich und gegen den kleinen Diktator ein.
„United“ schreien sie da gemeinsam und stürmen das Bahnhofsgebäude, ein Ablenkungsmanöver, das die Amerikaner zur
unbehelligten Weiterfahrt nutzen.
Bittere Wahrheiten verstecken sich hinter dem heiteren Dorftreiben. Das Drama, das Nemescu aufführt, ist das Drama
zweier aufeinander treffender Kulturen, deren Verständigung zum Scheitern verurteilt ist. Schon der Bruderkuss des
Bürgermeisters geht beim amerikanischen Captain Jones ins Leere. Die Versuche der Dorfbewohner, vom Streik der Arbeiter,
bis zum Fest und denjungen aufgetakelten Mädchen, stehen am Ende für den Kampf für oder den Traum von einem besseren Leben.
Doch es gibt keinen Ausweg aus der rumänischen Einöde.
Ein Drama voller bitterer Wahrheiten
Am Ende setzt sich der Zug wieder in Bewegung, an Bord amerikanische Soldaten mit Erinnerungen an eine versüßte Wartezeit
und Unterhaltung. Das Gleichgewicht und Machtgefüge des Dorfes ist mit den Amerikanern ins Wanken geraten.
„California Dreamin´“ ist wahrhaft sehenswert. Der Film wird auch im Ausland Kinoerfolge feiern - nur wahrscheinlich eher
als Komödie, bestenfalls als Tragikomödie, aber wohl kaum als Drama. Diesen Irrtum wird Cristian Nemescu nicht mehr aufklären
können. Er kam am Ende der Filmproduktion gemeinsam mit seinem Toningenieur bei einem Autounfall ums Leben. Schuld an dem
Unfall am 24. August 2006 in Bukarest war ein britischer Staatsbürger, der mit seinem Porsche Cayenne eine rote Ampel
missachtete und die zulässige Höchstgeschwindigkeit um mehr als 60 km/h überschritt. Zusammenprall der Kulturen. Im
rumänischen Kinosaal war das Lachen am Ende verhallt, untermalt von melancholischen Klängen: California Dreamin´.
Melanie Fröhlich (13.06.2007)
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Schweigen ist feige: Der europäische
Verfassungsvertrag in der deutschen und französischen
Öffentlichkeit
Ist der Verfassungsvertrag tot? Eine ernsthafte Debatte
über einen neuen Grundlagenvertrag für
Europäische Union (EU) ist kaum noch lebendig
– zumindest in der deutschen und französischen
Öffentlichkeit.
In beiden Ländern haben sich Desinteresse und
Müdigkeit etabliert, über die Zukunft dieser Frage
öffentlich zu diskutieren. Die Gründe dafür
sind denkbar unterschiedlich.
Die französische Öffentlichkeit ist zu
annähernd 100% mit dem Präsidentschaftswahlkampf
beschäftigt, in dem sich keiner der Kandidaten die Finger am
Thema EU-Verfassung verbrennen möchte. Immerhin hat sich an
der Frage nach dem „oui“ oder
„non“ zum Verfassungsvertrag ein Riss durch die
Sozialistische Partei gezogen, der bis heute nachwirkt. Und nur weil
Ségolène Royal sich nicht an dieser Debatte
beteiligte, ist es ihr gelungen die Stimmen beider Lager auf sich zu
vereinen und zur Präsidentschaftskandidatin ihrer Partei
gekürt zu werden.
Auch in Deutschland flaute die publizistische Thematisierung nach dem
ersten Europa-Boom in den Leitartikeln und Feuilletons zu Beginn der
deutschen EU-Ratspräsidentschaft im Januar merklich ab. Doch
nicht wie in Frankreich ist hier die Brisanz des Themas sondern
vielmehr ein allgemeiner Konsens über die Zustimmung zur
Verfassung der Grund für die fehlende Debatte. Die Frage nach
einer europäischen Verfassung hat kein Konfliktpotenzial und
ist also massenmedial nicht diskussionswürdig. Auch aus
politischen Gründen ist das Thema langweilig für die
mediale Öffentlichkeit, denn die EU ist ein Produkt
politischer Entscheidungen und damit verkörpert sie auch immer
das politisch mögliche Europa der jeweiligen Gegenwart. Und
die Möglichkeit der deutschen Ratspräsidentschaft in
der Verfassungsfrage etwa zu bewegen, ist sehr gering. Frau Merkel und
Herr Steinmeier wissen sich die Hände gebunden; denn solange
es in Frankreich keinen neuen Präsidenten gibt und in
Großbritannien keinen Nachfolger für Tony Blair,
wird Deutschland kaum Partner für einen Neuanfang in der
Verfassungsfrage finden.
Und so wird links wie rechts des Rheins über das Thema
EU-Verfassung mehr geschwiegen als geschrieben, eine massenmediale
Thematisierung findet kaum statt und damit auch keine breite
öffentliche Auseinandersetzung. Und somit
beschäftigen sich wieder einmal nur diejenigen mit Europa die
sich ohnehin schon dafür interessieren und der
europäischen Einigung gegenüber positiv eingestellt
sind. Die Debatte wird weitgehend unpolitisch, verlagert sich in
Europa-affine Kreise und folgt dort den standardisierten Mustern der
Argumentation und Rhetorik, die sich wie folgt zusammenfassen
lässt:
Die Stagnation des Verfassungsprozesses wird als Sinnkrise
und Krise der „Idee Europa“ selbst gedeutet.
Deshalb müsse – dies ist die dominierende
Argumentationslinie – das Streben nach einem vereinten Europa
bei einer Introspektion der Europäer und der Reflexion
über die „Idee Europa“ ansetzen. Erst mit
der Bewusstwerdung über den Sinngehalt der „Idee
Europa“ könnten die Grundlagen für die
kontinentale Vereinigung der europäischen Nationalstaaten
geschaffen werden. Eine kulturell definierte „Idee
Europa“ soll dabei als gemeinschaftsstiftendes
europäisches Identifikationsobjekt die Grundlage für
einen Zusammenschluss der europäischen Staaten bilden. Vor
allem durch die historische Suche nach dem Kern einer als
originär europäisch angesehenen Kultur sollten die
Grundmauern dieser Idee gestärkt werden.
Dann kann es sich jeder selbst aussuchen welche geschichtlichen
Ereignisse und Entwicklungen uns zu Europäern machen.
Spätestens an diesem Punkt beginnt die Beliebigkeit, getarnt
als proeuropäischer Konsens: Alle sind sich einig wie wichtig
und richtig ein vereinigtes Europa ist, aber geschwiegen wird
über die Inhalte der einigenden Elemente,
vermieden werden potenzielle Konflikt- und Diskussionspunkte. So wird
der Diskurs zum Palaver und zur Sonntagsrhetorik.
Die Zukunft eines europäischen Verfassungsvertrags
wird zum einen von politischen Entscheidungen abhängen, zu
anderem auch von der Fähigkeit der europäischen
Öffentlichkeiten, über diese Frage mutig zu
diskutieren, auch um den Preis dabei die gemütliche Harmonie
des Konsenses zu riskieren.
Marie Fabiunke
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Cool! - Die englische Übersetzung von
Lotmans „Kultura i vzryv“ erscheint 2007.
„My
translation of 'Culture and Explosion' is likely to be published in
2007. Cool!“, kündigte über Weihnachten der
Weblogger M. Clark an.* Die Nachfrage bei den estnischen Semiotikern
bestätigt die Botschaft. Längst ist diese
Ankündigung überfällig. Handelt es sich doch
hierbei um das letzte Buch des Semiotikers Juri Lotman, das bereits
1992 ,ein Jahr vor seinem Tod, in Moskau erschien. Die estnisch-,
polnisch-, russisch-, spanisch- und italienischsprachige
Rezeptionsgemeinde wird Zuwachs bekommen. Als ein für so
manchen verschlüsselter Geheimtipp kann „Kultura i
vzryv“ mit der Veröffentlichung der englischen
Übersetzung dann nicht mehr bezeichnet werden, und das ist
sehr gut so.
„Culture and Explosion“ gilt neben „The
Universe of the Mind“ -
eine 2001 erschienene Übersetzung des Originaltextes
„Vnutri mysljaschikh
mirov“ - als Hauptwerk der letzten Schaffensjahre Lotmans, in
denen er
sein kultursemiotisches Konzept der
„Semiosphäre“ ausarbeitete.
Schon im Jahr 2000 brachte der russische Verlag
„Iskusstvo“ die beiden
Werke in einer Publikation mit dem treffenden Titel
„Semiosfera“ zusammen.
Geht es in „The Universe of the Mind“ in erster
Linie um eine Ausformulierung
des 1984 von Lotman eingeführten Konzeptes der
Semiosphäre und ihres
kulturellen dynamischen Mechanismus, so ist der Akzent in
„Culture and
Explosion“ auf die Bedeutung der explosiven Prozesse
innerhalb der Semiosphäre
gesetzt. Lotman kritisiert die Diskreditierung der explosiven Prozesse
sowie
ihre ausschließliche Konnotierung mit Zerstörung und
Destrukturiertheit
innerhalb des gegenwärtigen allgemeinen Sprachgebrauchs sowie
der Geistes-
und Kulturwissenschaft. Es ist die zentrale These des Buches, dass die
gesamte
Sphäre der Kultur ihre Bewegung nur in der komplizierten
Wechselbeziehung
zwischen explosiven dynamischen Prozessen und Mechanismen der
Stabilität
realisieren kann. Ein Ausblenden dieser Wechselbeziehung bedeutet das
Ausblenden
der zentralen Momente der kulturellen Bewegung, d.h. der Momente, in
denen sich
unvorhersagbare Veränderungen des kulturellen Zustandes
ereignen, die durch
einen äußerst hohen Informationsgrad
geprägt sind.
„Der
Moment der Explosion ist gleichzeitig ein Ort der starken Zunahme der
Information im gesamten System. Die Kurve der Entwicklung springt hier
in einen völlig neuen, nicht vorhersagbaren und schwierigeren
Weg über. Die dominierenden Elemente, die sich infolge der
Explosion entwickeln und die die zukünftige Entwicklung
bestimmen, können jedes mögliche Element aus dem
System oder aus einem anderen System sein, die zufällig in die
Explosion und somit in das Ineinandergreifen der Möglichkeiten
der zukünftigen Bewegung einbezogen werden.“*
An
„Kultur und Explosion“ angelehnt, umreißt
Lotman 1993 in seinem letzten Interview kurz einen für ihn
äußerst bedeutenden Aufgabenbereich der heutigen
(Kultur-)Wissenschaft. Es geht um die Einführung des Begriffes
der Unvorhersagbarkeit in die Wissenschaft und die damit verbundene
Analyse der Wechselbeziehung zwischen unvorhersagbaren Prozessen und
den Mechanismen der kulturellen Stabilität. Und wie eine
Botschaft an die ihm folgende Generation wiederholt Lotman in seinem
letzten Buch fast unermüdlich, dass explosive Prozesse nicht
ausschließlich als „Krise“ zu verstehen
und zu analysieren sind - ganz im Gegenteil.
2007 können wir uns hoffentlich auf möglichst viele
Interpretationen von „Culture and Explosion“
freuen. In einigen der wenigen knappen deutschsprachigen
Sekundärtexte zu „Kultur und Explosion“
wandelt dann vielleicht doch eher der Geist, der für die
Geisteswissenschaften an deutschen Universitäten
heraufbeschworen wird. Geht es hier überhaupt um Lotmans
Publikation, wenn Ebert schreibt: „Lotman reagierte
mit 'Kultura i vzryv' [auf das Ende der Sowjetunion], und
vielleicht hat er damit auch das Ende der Kultursemiotik gemeint, die
in diese 'Explosion' ebenso hineingeraten ist, wie die Kultur insgesamt“?*
Wir werden es sehr bald erfahren.
Juri Lotman: Kultura i vzryv. In: Semiosfera. St. Petersburg
(Iskusstvo) 2000, S. 22-23.
Juri Lotman: Na poroge nepredskazuemogo, Chelovek 1993.
Christa Ebert: Kultursemiotik am Scheideweg.
http://www.itbubble.com/?m=200612
http://www1.ku-eichstaett.de/ZIMOS/forum/docs/Ebert.html
Marlene
Heidel (10.02.2007)
zurück
Die EU ist mehr als die Summe der Flaggen ihrer
Mitgliedsländer. Eine Antwort an Rem
Koolhaas
Dass es
unangebracht ist spielerisch mit Europa
umzugehen, sofern man es nicht mit Kindern zu tun hat, wurde einmal
mehr in dem Artikel “Wir wecken den
Spieltrieb” (ein Interview mit dem niederländischen
Architekten Rem Koolhaas) in der Wochenzeitschrift
“Die ZEIT” deutlich.
Im Interview formuliert der Architekt Rem Koolhaas einmal mehr seine
Gedanken
zu Europa und der EU, und weist auf seinen Beitrag zur Plakatisierung
der EU
hin, indem er z.B. eine neue EU-Flagge entworfen hat.
Die EU hat eine in ihrer Symbolik und Idee funktionierende Flagge.
Wieso brauchen
wir eine neue? Nur um unseren Spieltrieb zu wecken? Um uns zu
amüsieren?
Die neue Flagge von Rem Koolhaas kann nicht als Symbol, weder
für Europa
und schon gar nicht fuer die EU verstanden werden, denn sie erweckt ein
falsches
Bild von der EU und verbildlicht allenfalls den weit verbreiteten
Irrglauben,
die EU sei ein Puzzle.
Die EU ist kein Puzzle, die eine bunte Flagge braucht, die sich mit
jedem Beitritt
um neue Farben erweitern lässt. So wie Koolhaas es propagiert.
Die EU war
seit ihrer Gründung ein Ganzes und um ihr gerecht zu werden
muss sie auch
als ein solches verstanden werden. Die Idee der Koolhaas-Flagge zeigt
das Missverständnis
des EU-Gedankens in ihrem Kern. Es geht nicht darum die EU durch Ihre
Mitgliedsländer
zu definieren, sich ihrer Kultur und sogar ihrer Farben
anzunehmen, sondern sie
durch Nationen, die die gleichen Werte und
Zukunftsvorstellungen haben,
zu festigen und diesen Nationen einen Raum zu bieten in einer neuen
Form an der
Gestaltung unserer Zukunft mitzuwirken.
Ein zeitgenössischer Architekt sollte sich seiner
Verantwortung gegenüber
der Gesellschaft bewusst sein und die Blicke stets Richtung Zukunft
führen,
denn sich an altbewährten Symbolen zu probieren birgt immer
ein hohes Risiko
zu versagen in sich.
Die Koolhaas Position hat aber auch eine diagnostische Funktion. Sie
konkretisiert
die Schwachstellen und weist auf die Lücken, an denen wir in
Europa noch
arbeiten können.
Europa braucht keine spielerischen Gedanken, sondern vielmehr
ernstzunehmende
Architektur; eine Architektur die hilft die komplexen Strukturen und
weit reichenden
Relationen innerhalb der EU zu manifestieren.
Durch seine oftmals illustrativen und zweidimensionalen Aussagen
trägt Rem
Koolhaas maßgeblich dazu bei, das gegenwärtig
ohnehin geschwächte
Bild des Architekten noch weiter zu schwächen!
Architektur produzieren, heißt:
beobachten-reflektieren-denken-bauen. Entfernt
man eines dieser Glieder in der Schaffenskette, kann man kein
zufriedenstellendes
Ergebnis liefern. Koolhaas sollte sich dessen bewusst sein, wenn er
sagt: “Im Übrigen
bräuchten viele Leute heute das Denken von Architekten, ohne
dass die gleich etwas
bauen.”
Ein Architekt der sein Handwerk begriffen hat, beendet seine Arbeit
immer mit
dem Bauen, als unausweichliche Vervollkommnung seines Schaffens. Wie
ein Architekt
zu denken, ohne jedoch etwas zu bauen ist unmöglich.
Den Europagedanken in Frage zu stellen und zum Neudenken Europas
aufzurufen ist
nicht nur verantwortungslos gegenüber Europa und allen
Europäern, sondern
zeigt auch wie Koolhaas an seinem eigenen Berufsfeld vorbeigedacht hat.
Weder
ein Einzelner noch ein einziges Berufsfeld ist in der Lage einem so
komplexen
Bauwerk wie es die EU darstellt eine neue Form geben.
Auf die Frage was Ihm spontan einfiele, wenn er an Europa denke
antwortet Koolhaas:
„ Scham. Mir ist es unglaublich
peinlich, wie mit dem
Thema umgegangen wird, wie sehr wir die Möglichkeiten der EU
unterschätzen.
Wie wenig wir wissen. Auch ich wusste lange fast nichts.“
Scham empfinde ich nicht bei dem Gedanken an Europa, sondern vielmehr
bei dem
Gedanken, dass ein solch populärer Architekt und
Europäer wie
Rem Koolhaas, es nicht versteht seinen Beitrag zu leisten, die
Konstruktion Europäische
Union zu stabilisieren und stattdessen zu ihrem Einsturz und Neuaufbau
rät.
Die EU wurde schon erdacht und Europa kann nicht neu erdacht werden.
Denken und
formen sollten wir stattdessen unsere Zukunft. Eine Zukunft in den
Räumen
Europas.
Vart Bisanz, Maastricht
zurück
Europa als politische
Gegenwart und als öffentlicher Raum der Kultur - Interview mit
der Deutschen Welle am 30.6.2006
DW: Ein Jahr wollten sich europäische
Politiker Zeit geben, um "nachzudenken". Haben sie ihre Hausaufgaben
gemacht, wenn ja, welche Konsens ist dabei herausgekommen?
KIE: In der Frage des Verfassungs-Vertrags hat sich
seit einem Jahr nichts bewegt - außer den sich wiederholenden
Plädoyers der (Europa)-Politiker für eine
Reflexionsphase und die Beteuerung bester europäischer
Absichten.
Eine vernünftige öffentliche Debatte konnte
allerdings nicht geführt werden, weil die Absagen der
Franzosen und Niederländer und die Kritik am
Verfassungsvertrag nicht ernst genommen wurden. Stattdessen wurden die
in den Referenden ausdrückte Ablehnung des
Verfassungsvertrages als Kommunikationsproblem definiert. Die
"Kommunikation" habe nicht funktioniert - so die dominierende Deutung
der Politiker und der Medien - es sei nicht gelungen, den
EU-Bürgern die Vorteile des Vertrages zu vermitteln.
Hinter diesem Argument steckt die Vorstellung, dass alle dem
vorgelegten Verfassungsvertrag zugestimmt hätten, wenn sie nur
richtig zugehört hätten oder wenn man es ihnen nur
einleuchtender erklärt hätte.
Die Tatsache, dass die Ablehnung auf Grund sachlicher Faktoren erfolgte
wird dabei ausgeschlossen. Größer könnten
die Ignoranz und das Desinteresse gegenüber den Vorstellungen
und Positionen der europäischen Bürger kaum sein.
Das größte Problem dieses momentanen Stillstands
oder der offizielle verordneten Reflexionsphase ist die Tatsache, dass
nach dem französischen und niederländischen "Nein",
diejenigen Staaten unbeachtet blieben, die den Vertrag bereits
ratifiziert haben - das sind 15 von 25, womit mehr als die
Hälfte der 454,3 Mio. EU-Einwohner dem Verfassungsvertrag
bereits zugestimmt haben. Diese Stimmen wurden offenbar vergessen.
Zu neuen Bemühungen um einen Verfassungsvertrag wird es wohl
erst in der ersten Jahreshälfte des Jahres 2007 kommen, wenn
Deutschland den EU-Ratsvorsitz übernimmt. Wie es aussieht,
meint Angela Merkel es ernst mit ihren Bemühungen, die
Verfassungs-Denbatte wieder zu beleben, nicht zuletzt um Deutschland
eine neue europapolitische Bedeutung zu verleihen.
DW: Renationalisierung" ist ein abschreckendes
Stichwort für alle Europa-Befürworter. Ist dies nur
ein Modewort, eine Modeerscheinung oder steckt mehr dahinter?
KIE: Der europäische Integrationsprozess
und das Streben nach einer europäischen Einigung waren immer
durch wechselnde Dynamiken gekennzeichnet, bei denen zu
unterschiedlichen Zeitpunkten und in unterschiedlicher
Ausprägungen jeweils nationale und oder europäische
Orientierungen dominierten. Nach dem Abbruch des
Verfassungs-Ratifikationsprozesses im letzten Sommer war die
Europa-Euphorie erstmal dahin. Von dem Phänomen einer
Re-Nationalisierung kann allerdings nicht die Rede sein, denn Europa
und Nation gehören zusammen. Die Nation als Idee und
politische Organisationsform ist Teil der europäischen
Geschichte und Kultur. Deshalb kann es eine europäische
Einigung ohne die Dimension der Nation nicht geben, alles andere
wäre postnational-träumerischer Übereifer.
Beim Prozess der europäischen Integration kann es nicht darum
gehen, die Nation zu überwinden, sie wird vielmehr stets ein
Teil Europas sein, auch wenn mit dem Integrationsprozess schrittweise
mehr Kompetenzen auf eine transnational-europäische Ebene
verlegt werden. In diesem Prozess geht es darum, eine politische
Gemeinschaft zu ermöglichen, in der die europäischen
Nationen aufeinander zu- und eingehen und idealerweise einen Konsens
oder eine für alle Beteiligten tragbare Lösung
finden.
DW: Europa distanzierte sich lange Zeit von Amerika
darin, dass der alte Kontinent nicht länger auf ideologisierte
Werte, sondern vielmehr auf Toleranz, Kooperationismus und
Friedensbewegung setzte. Nun aber flammen nahezu zeitgleich in den
meisten europäischen Ländern Wertediskussion auf,
diesmal allerdings nicht zur Abgrenzung von Amerika, sondern zunehmend
von anderen "nichtabendländischen" Kulturen, zumal Religionen.
Wäre diese Wertediskussion eine neue Basis für die
europäische Einigung?
KIE: Die USA und Europa sind gegenwärtig
wie historisch unterschiedlich konstituiert und haben unterschiedliche
politische Kulturen.
Einen Gegenüberstellung Europas und Amerikas oder deren
Vergleich - sei er
positiv oder negativ, als Vorbild oder als Gegen- oder Feindbild
formuliert - ist daher wenig weiterführend.
Ein Beispiel für derartig fehlgeleitete Vergleiche erleben wir
heute in der Debatte über die Bildungs- und
Wissenschaftspolitik, der zu Folge sich Europa an amerikanischen
Leitbildern orientieren sollte. Dieser Ansatz kann nicht erfolgreich
sein, denn die Wissenschafts- und Bildungskultur und die Strukturen und
Mentalitäten, die sich daraus entwickelt haben, sind derart
unterschiedlich, dass eine Adaption der europäischen
Universitäten an das amerikanische Modell nicht gelingen kann.
Stattdessen muss ein europäischer Weg gefunden werden, der den
Strukturen und Dynamiken der europäischen Bildung und
Wissenschaft entspricht.
Das Reden über Werte, wie sie in der Politik und in den Medien
sehr oft auftaucht, ist reine Rhetorik. Bei den diskutierten Werten,
die Europa zugeschrieben werden, handelt es sich um flexible und
dehnbare Begriffe - oftmals Leerformeln, die mit einer Vielzahl
unterschiedlicher und teilweise gegensätzlicher Inhalte
gefüllt werden können. Dabei soll häufig
überspielt werden, worum es wirklich geht: um Interessen und
um den Einfluss, diese zu realisieren. Und um für die
Umsetzung dieser Interessen einen öffentlichen Konsens zu
erhalten, wird die politische Diskussion mit Werten dekoriert.
Das ist grundsätzlich kein Geheimnis, aber in Bezug auf Europa
wird die rhetorische Verwendung von Werten nur selten kritisch
hinterfragt. Aber in einer demokratischen Öffentlichkeit
sollte es möglich sein, die Diskussionen über Europas
Werte nach den ihr zu Grund liegenden Funktionen zu befragen ohne dabei
als europaskeptisch zu gelten.
DW: Auch der ökonomische Rahmen
für die EU hat sich stark verändert. Die
BRIC-Länder (Brasilien, Russland, Indien, China) und die 12
anderen "kleinere Tigerstaaten" (boomende Staaten in Asien z.B.
Singapur, Honkong. Malaysia, Südkorea, Taiwan, Thailand,
Philippinen etc.) fordern immer mehr den gesamten "Westen" heraus, dies
zunehmend in strategischen Fragen wie Energieversorgung, bei der die
USA als Nationalstaat viel effektiver reagieren kann als dieser
Bündel europäischer Kleinstaaten. Ergibt sich aus
diesem ökonomischen Druck eine andere Quelle für das
Wiedererstarken vom "vereinigten" Europa?
KIE: Die "Gaskrise" Anfang diesen Jahres hat eine
der größten Schwächen der
europäischen Energiepolitik bloßgelegt: Aufgrund
nationaler Interessen gibt es keine wirkliche gemeinsame Energiepolitik
und der Schaffung eines Energiebinnenmarkts stellen sich zahlreiche
Hindernisse in den Weg.
Doch dies sind nur die akuten Probleme. In der Energiepolitik wie in
anderen Bereichen kann es sich die EU nicht leisten, nur über
kurzfristige Fragestellungen zu diskutieren, sondern es müssen
langfristige Pläne entwickelt werden. Die EU muss sich fragen,
wie sie innovative und alternative Formen der Energiegewinnung
fördern kann.
Das Beispiel Energiepolitik steht dabei auch exemplarisch für
ein Grundproblem des gegenwärtigen politischen Europas: Europa
muss sich auf seine eigenen Kapitale konzentrieren und politische
Strukturen schaffen, die deren bestmögliche Aktivierung
ermöglichen. Dafür braucht die EU langfristige
ausgerichtete und genuin europäische Visionen. Und wir
brauchen klare europäische Zuständigkeiten und
Kompetenzen, um diese zu realisieren.
DW: Als Kulturwissenschaftlerin frage ich Sie, wie
Sie beispielsweise einem Chinesen das erklären
würden, was die Kultur Europas charakterisiert. Ist es die
Gesamtheit der einzelnen nationalen Kulturen? Wie sieht das Haus der
europäischen Kultur aus?
KIE: Die Metapher das europäischen Hauses
ist so oft bemüht und mit unterschiedlichen und
gegensätzlichen Inhalten besetzt worden, dass sie zu einer
Phrase geraten ist. Wir sollten uns von dieser etablierten und
standardisierten Europa-Rhetorik entfernen.
Europas Kultur besteht nicht nur aus der Gesamtheit der nationalen
Kulturelemente sondern eine sie ist eine gemeinsame kulturelle Textur,
die sich aus dem Zusammenwirken dieser einzelnen Elemente herausbildet
und zwar durch die Kommunikation und Zirkulation von
Europäerinnen und Europäern. Bei diesen Dynamiken
kommt es immer wieder zur Überschreitung verschiedener Grenzen
und zum Aufbau von Asymmetrien, die im öffentlichen Raum zur
Verdichtung europäischer Kultur führen
können. Dies schließt das Bewusstsein
unterschiedlicher kultureller Sphären ein, und das bedeutet,
dass sich diese einzelnen Sphären ständig selbst
definieren müssen wen sie in Berührung miteinander
kommen.
Auf diese Weise konstituiert sich auch eine europäische
Identität und hier wird sichtbar, dass eine solche
Identität nichts mit kosmopolitischen Identitäten zu
tun hat, die ja auf Gemeinsamkeiten unterschiedlicher Bestandteile
fokussiert sind. Eine europäische Identität
konstituiert vielmehr sich durch die Unterschiede ihrer Einzelelement
und der Dynamiken, die sich zwischen ihnen bilden, diese Bewegung -
durch Kommunikation und Zirkulation - selbst ist genuines Merkmal einer
europäische Identität.
DW: Könnte dieses Zusammenspiel von
Unterschiedlichkeiten ein Modell sein für andere Regionen der
Welt? Was könnten andere Kulturen dieser Welt von Europa
lernen?
KIE: Um ein
europäisches "Vorbild" kann es nicht gehen. Jede Region und
jede Gemeinschaft muss ihre eigenen Wege finden, mit ihren
inhärenten Unterschiedlichkeiten umzugehen: die Konflikte zu
bewältigen ebenso wie die produktiven Kräfte als
Kapital zu nutzen, die sich daraus ergeben können.
Marie Fabiunke (30.06.2006)
zurück
Die
Öffentlichkeit und die Grundlagen der Demokratie in Europa
Er
hat es selbst zugegeben: "Ich komme mit diesen Regeln nicht zurecht".
So äußerte sich der italienische Regierungschef
Silvio Berlusconi nach dem TV-Duell mit seinem politischen Gegner
Romano Prodi - und traf den Kern der Sache: Es geht um die Regeln, die
Regeln, nach denen Politik und Medien im öffentlichen
Kommunikationsraum zusammenwirken.
Das Fernsehduell zwischen den beiden Kontrahenten war Teil des medialen
Wahlkampfs für die italienischen Parlamentswahlen, die am 9.
und 10. April stattfinden. Berlusconi und Prodi wollen hier die
Grundlagen dafür schaffen, Premierminister Italiens zu werden.
Zwei Tage vor dem Duell ereignete sich das vorläufige
Highlight der medialen Inszenierung dieses Wahlkampfs. Berlusconi brach
ein Interview im staatlichen Fernsehsender "Rai Tre" vorzeitig ab, denn
auch hier kam er mit den Regeln nicht zurecht: Als die Interviewerin
Lucia Annunziata Berlusconi darum bat, seinen Monolog zu unterbrechen
und ihre Fragen zu beantworten, verließ dieser fluchend und
schimpfend das Studio und drohte der Interviewerin "Das wird ein Fleck
auf Ihrer Karriere bleiben."
Die
Regeln sind also der Kern des Problems. Aber um welches Problem geht
es? Es geht um die Medien, die Macht und die Politik und um ihre
Abhängigkeiten. Wer beeinflusst wen? Beide beeinflussen sich
gegenseitig, wäre die Antwort, die der Wirklichkeit am
nächsten käme. Und in gewisser Weise suggeriert diese
Antwort auch eine Ausgeglichenheit, die zunächst beruhigend
erscheinen könnte. Das Gegenteil ist der Fall: Bei den
gegenseitigen Einflüssen von Medien, Kapital und Politik, bei
denen die Grenzen zwischen den einzelnen Bereichen zunehmend
verschwimmen, steht die Legitimität und die
Glaubwürdigkeit von Medien in der demokratischen Gesellschaft
auf dem Spiel. Publizistische Glaubwürdigkeit ist in der
Unabhängigkeit der Medien verankert, in ihrer wirtschaftlichen
und politischen Freiheit. Berlusconi stellt diese
Unabhängigkeit in Frage, wenn er seine wirtschaftliche Macht
über die Medien - seine Mediaset-Netzwerke sind die
größte private Konkurrenz für die drei
staatlichen RAI-Programme - in eine (medien-)politische Macht
umfunktioniert.
Was für Italien gilt, gilt ebenso für Europa: Die
gegenseitige Indienstnahme wirtschaftlicher, medialer und politischer
Macht steht im Gegensatz zu den Prinzipien einer demokratischen
Öffentlichkeit, die sich frei und offen entfalten und Kritik
und Diskussion ermöglichen sollte - unabhängig von
den wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnissen. Eine
demokratische Öffentlichkeit legitimiert das politische System
der Demokratie, auf nationaler wie auf europäischer Eben, denn
sie ist die Prämisse für freie Information und
Kommunikation und damit die Voraussetzung für die
Partizipation am politischen Prozess. Die politische Kultur der
Demokratie ist untrennbar mit Publizität verbunden. Und weil
das heutige Europa in erster Linie ein durch Medien geschaffener
öffentlicher Kommunikationsraum ist, bildet eine demokratische
Öffentlichkeit in besonderer Weise die Grundlage für
ein demokratisches Europa.
Marie Fabiunke (25.03.2006)
zurück
I love EU?! - Österreichs Bekenntnis
Mit
der EU-Ratspräsidentschaft Österreichs für
das laufende Halbjahr 2006
erlebt die Ikonografie der Europäischen Union eine kreative,
äußerst
ästhetische Belebung. Österreichs Umsetzung der
europäischen Bildsprache
führt eine geringfügig veränderte Version
des Bildes des
niederländischen Architekten Rem Koolhaas an, der den
"Barcode" - so der
Titel seines Werkes - im Jahr 2004 zur Erweiterung der
Europäischen der
Öffentlichkeit vorstellte. In der Ausstellung "Das Bild
Europas" präsentierte
er von November 2004 bis Januar 2005 im Münchner "Haus der
Kunst" auch weitere
Vorschläge zur visuellen Darstellung dieser
(Link zur Ausstellung), so auch das Bild "I love EU".
angelehnt
an das Bild des Architekten Rem Koolhaas "Barcode" 2004:
das (Marken)Zeichen der österreichischen
EU-Ratspräsidentschaft
Österreich greift mit der Verwendung des Bildes die Forderung
nach einer ausdruckstärkeren Bildsprache der
Europäischen Union auf. Das nun offizielle (Marken)Zeichen
verweist auf die Farben der Nationalfahnen der 25 EU-Mitgliedstaaten,
wobei es die Farben der estnischen Flagge (blau-schwarz-weiß)
allerdings nicht ganz korrekt verarbeitet - was momentan unter den
Begriff der künstlerischen Freiheit fällt. Im
direkten Vergleich mit dem Symbol der Europäischen Union
"Sternenkreis auf blauem Hintergrund" (auf dessen Verwendung die
offizielle Website zur EU-Ratspräsidentschaft verzichtet)
bietet der "Barcode" stärkeren ikonischen Bezug. Im Hinblick
auf die beliebige Erweiterbarkeit seiner Farbreihen und damit der
direkten Sichtbarmachung der typischen Nationalfarben der EU-Mitglieder
versteht es sich als ausdrucksstärkere
Projektionsfläche, in der sich Bürger der jeweiligen
EU-Staaten spiegeln können. Das Logo der
Österreicherischen EU-Ratspräsidentschaft betont die
Vielseitigkeit der EU - und mündet zugleich in einem Symbol,
umrahmt diese sinnbildlich.
In welcher Form der "Barcode" künftig zirkulieren und
reproduziert werden wird, ist völlig offen. Doch ein Anfang
ist gemacht: Das Repertoire an Zeichen, auf das Europäer
zurückgreifen können, um ihrer Identität
Ausdruck zu verleihen, findet sich in sehr ansprechender Weise
erweitert. Ein Dankeschön an Österreich!
Weiterführender Link zur EU-Ratspräsidentschaft http://www.eu2006.at/
Christina Frank(13.02.2006)
zurück
Das "Nein" der Franzosen - mehr als eine Kritik an der
EU-Verfassung
Das
"Nein" fast 55 Prozent aller Franzosen zur EU-Verfassung dominiert in
diesen Tagen die Nachrichtenagenden der europäischen Medien.
So vermochte es auch Sabine Christiansen am vergangenen Sonntag in
ihrer Sendung einige Minuten lang nicht, die politische
Diskussionsrunde auf das ursprüngliche Thema der
möglicherweise in Kürze anstehenden Neuwahl einer
Bundesregierung zurückzuführen. Die Nachricht der
Ablehnung der EU-Verfassung durch das französische Volk
erschütterte die Talkrunde. Kritisch beurteilte man die
Verbindung der Abstimmung über die Verfassung mit
französischen innenpolitischen Konflikten. Doch auch die nicht
ablehnende Haltung Chiracs zur Erweiterung der Europäischen
Union in Bezug auf die Türkei oder andere Staaten
hätten letztendlich dazu bewegt, der EU-Verfassung eine Absage
zu erteilen.
Hierbei scheint es geradezu notwendig zu fragen, ob die Abstimmung und
ihr Ergebnis über eine Entscheidung zur EU-Verfassung hinaus
reichen und nicht sogar als eine Abstimmung bezüglich der
europäischen Integrationspolitik verstanden werden kann.
Der Entwurf der Europäischen Verfassung regelt unter anderem
das Verfahren für den EU-Beitritt, behandelt Werte, Symbole,
Ziele und Grundrechte in der Europäischen Union und bildet
damit die Voraussetzung für eine intensivere Integration der
jetzigen sowie künftigen Mitglieder der EU. Er ist der
Schlüssel zu einer demokratisch organisierten Union und
würde die in vielen Teilen schein-demokratischen
EU-Politstrukturen erneuern.
Sollte dies allen französischen Wählern bewusst
gewesen sein (wovon hier einmal ausgegangen wird), hätte es
nicht zu diesem Abstimmungsergebnis kommen müssen. Es sei
denn, das klare "Nein" ist auch als ein Zeichen gegen die weitere
europäische Integration zu verstehen, als die Forderung nach
einem langsameren und bedächtigerem vollzogenem
Integrierungsprozess und der Angst vor wachsender Ungleichgewichten auf
dem europäischen Arbeitsmarkt.
So könnten die EU-Integrationsgespräche mit der
Türkei die Zurückhaltung in der
französischen Bevölkerung hervorgerufen, die
Franzosen gar aus dem in der EU vielfach nur latent ausgebildeten
Bewusstsein über eine tatsächlich gelebte
EU-Bürgerschaft mit gelebten EU-Rechten und einer
dazugehörigen Identität aufgeweckt haben. Denn es hat
den Anschein, als hätte man bewusst gewisse
europäische Werte bedroht gesehen und diesem Unmut mittels
demokratischer Wege eine Form gegeben. Damit hat paradoxer Weise die
fortschreitende, fast atemlos vorangetriebene EU-Integration ihr erstes
Opfer gefordert und sich selbst den Dolch durch den Rücken in
das Herz gestoßen.
Es scheint, als wenn sich unsere EU-Politiker in einigen Dingen noch
nicht über das Ausmaß ihres Handelns bewusst sind
oder sein wollen. Denn niemand scheint in der Tat damit gerechnet zu
haben, dass ein Mitgliedstaat der EU und dazu auch noch ein
Gründungsmitglied diese Verfassung ablehnen würde.
Selbstgefällig und selbstsicher hat man keinen Gedanken daran
verschwendet, dass sich EU-Verfassung betreffende Abstimmungen wandeln
können zu Abstimmungen über weitere Politikfelder der
EU wie über die Integrationspolitik und ihr in Teilen
grobfahrlässiger Umgang mit den Grenzen europäischer
Identität und Ängsten. Die Europäische Union
täte jetzt gut daran, sich deutlich als
Identitätsgemeinschaft zu profilieren, um ihren
EU-Bürgern die bereits zart wachsende Identität als
Bürger der Europäischen Union zu
ermöglichen. Aus diesem Grund ist es an der Zeit, nach
innengerichtete europäische Identität zu erschaffen
und sie als die Grundvoraussetzung für die Existenz der
Europäischen Union zu verstehen. Die EU steht vor der
Tatsache, dass es ohne gestärkte gemeinsame Identität
keine gemeinsame EU-Verfassung geben kann.
Christina Frank(31.05.2005)
zurück
Der Deutsche Bundestag ratifiziert den europäischen
Verfassungsvertrag
- und blickt nach Paris
Der
Bundestag hat mit großer Mehrheit den europäischen
Verfassungsvertrag ratifiziert, die Zustimmung des Bundesrats am 28.
Mai gilt als ebenso sicher.
Die deutschen Parlamentarier sollen den Franzosen mit gutem Beispiel
vorangehen, hatte sich doch Bundeskanzler Gerhard Schröder
für einen frühen Abstimmungstermin eingesetzt, um
noch ein deutliches pro-europäisches Signal in Richtung Westen
zu senden.
Nicht zu unrecht: Der Ausgang der französischen
Volksabstimmung über die Verfassung am 29. Mai ist noch
vollkommen ungewiss.
Auch wenn die Kritikpunkte der Verfassungsgegner und ihre Forderung
nach einem sozialeren Europa ernster genommen werden sollten, steht
fest, dass die EU eine Verfassung braucht, und zwar so bald wie
möglich.
Warum? Die politischen Institutionen müssen vereinfacht, die
Entscheidungsprozesse transparenter gestaltet werden, der vorliegende
Verfassungsvertrag enthält dazu wichtige Neuregelungen.
Die EU braucht ein Gesicht. Mit der Verfassung hätten wir
einen hauptamtlichen Präsidenten für den Rat der
Staats- und Regierungschefs - eine Art "Europa-Präsident". Der
Posten eines europäischen Außenministers
würde neu geschaffen, ebenso ein europäischer
diplomatischer Dienst. Wenn die EU es ernst meint mit ihren Ambitionen
als weltpolitischer Akteur, dann ist dies ein erster symbolischer
Schritt. Symbolisch, weil der EU-Außenminister kaum eigene
Kompetenzen hätte; ein Anfang für eine bessere
Sichtbarkeit der europäischen Außenpolitik
wäre es allemal.
Auch nach innen kann die Verfassung Europa stärken: In der
Präambel und der Grundrechte-Charta werden die Werte und Ziele
der Union formuliert, die EU wird als Wertegemeinschaft definiert und
bildet so eine Grundlage für eine lebendige
europäische Identität.
Die
überwältigende Bundestagsmehrheit für die
Verfassung - fast 95% stimmten dafür- täuscht
über das in Deutschland weit verbreitete Desinteresse hinweg.
Die Debatten in Politik und Öffentlichkeit sind mau, an der
Mehrheit der Bevölkerung gehen sie ganz vorbei. Der
"historische Schritt" steht als Floskel hoch im Kurs, von allen Seiten
sind Europa-Bekenntnisse zu vernehmen - und doch wirkt der Pathos eher
gewollt als leidenschaftlich. Von Europassion keine Spur.
In dieser Hinsicht haben die französischen Europäer
uns Deutschen einiges voraus. Die lebendigen Debatten in Frankreichs
Öffentlichkeit zeigen, dass sich die Bürger
über die Zukunft der EU Gedanken machen - ein guter Grund,
Paris im Auge zu behalten und dabei auf ein "oui" zu hoffen.
Marie Fabiunke (20.05.2005)
zurück
Anfang Mai beantwortete das KIE in einem
Interview die Fragen des Radiosenders Deutsche Welle über
aktuelle Probleme und Perspektiven der EU. Das Interview wurde am 23.5.
im Rahmen einer Radiosendung zur europäischen Verfassung in
chinesischer Sprache ausgestrahlt.
Lesen
Sie hier ein Résumé des Interviews:
DW: Europa
war und ist zuerst ein geographischer Begriff, ein Kontinent mit vielen
Kulturen und Sprachen. Europa als Kontinent hat auch schon immer auf
sein Banner geschrieben, dass diese Vielfalt auch bleibt. Wenn jedoch
nach der Ökonomie und zunehmend auch die Verwaltung nun auch
politische Entscheidungswege "kondensiert" und konzentriert werden
sollte, was wäre noch der Garant dafür, dass die
Vielfalt erhalten bleibt, die gesellschaftliche Pluralität
plus Multikulti?
Kie: Europa
ist gerade durch die Spannung gekennzeichnet, die zwischen kultureller
Vielfalt einerseits und dem politisch-wirtschaftlichen
Integrationsprozess andererseits besteht. Kultureller Polyzentrismus
und die Zentralisierung politisch-administrativer Macht und
Wirtschaftskraft stehen sich dabei als Gegenpole gegenüber.
Wir gehen in unserer kulturwissenschaftlichen Arbeit von einem weiten
Kulturbegriff aus, der die politischen, ökonomischen und
künstlerischen Teilbereiche einer Gesellschaft und deren
Institutionalisierungen umfasst. Europa ist ein kultureller Raum. In
einem solchen Verständnis ist das politische System der EU mit
seinen Institutionen also ein Ausdruck der europäischen
Kultur. Die kulturelle Dimension der europäischen Integration
ist daher ist nicht zu trennen von der politischen und
wirtschaftlichen.
Der aktuell vorliegende Verfassungsvertrag kann ein Beitrag sein zur
Erhaltung der kulturellen Vielfalt in Europa. Nicht nur in der Losung
"in Vielfalt" geeint, sondern auch in den Regelungen zur
europäischen Kulturpolitik wird die Verpflichtung zur
kulturellen Vielfalt deutlich, wie zum Beispiel in den vertraglichen
Regelungen zu kulturellen und audiovisuellen Gütern und
Dienstleistungen.
Die EU braucht eine Kulturpolitik, die die Entfaltung der verschiedenen
nationalen und regionalen Kulturen ermöglicht und dabei
gleichzeitig Synthesen einer gemeinsamen europäischen Kultur
fördert.
DW: Kommen
wir von dem abstrakten Thema der europäischen Kultur zur
konkreten Politik: Europa versteht sich, glaubt man Politikern und
ihren Parteiapparaten, auch geopolitisch als eine neue "Macht", eine
Alternative, etwa zu den USA. Was ist, ideell wie reell, wirklich so
anders, so alternativ in Europa, und wie soll diese Alternative
realiter geschaffen bzw. erhalten werden? Dadurch etwa, dass aus Europa
nie eine Weltherrschaft als Anspruch der Europäer erhebt und
formuliert?
Kie: Die
politischen Werte der EU, vor allem der Außenpolitik
unterscheiden sich in vielfacher Hinsicht von denen der USA. Auch wenn
die EU im Irakkrieg keine einheitliche Position vertreten hat, gibt es
in Europa auf Grund der historischen Erfahrungen eine spezifisch
europäische Perspektive der Weltpolitik.
Der reflektierte Umgang mit der geschichtlichen Kontinuitäten
und Brüchen europäischer Außenpolitik, vor
allem mit ihren dunklen Seiten wie dem Imperialismus und dem
Kolonialismus sollte es den Europäern ermöglichen,
eine eigenständige und verantwortungsvolle Rolle in der
Weltpolitik zu übernehmen. Sicherlich verfolgt die EU als
globaler politischer Akteur eigene (geo-)politische Interessen, das ist
legitim und wichtig, aber sie orientiert sich dabei Idealerweise an den
Werten Frieden, Gerechtigkeit, Solidarität. Zudem verfolgt die
EU ihre Außenpolitik im Einklang mit den Vereinten Nationen
und dem Völkerrecht.
Der Verfassungsvertrag beinhaltet die neue Funktion des
EU-Außenministers. Obwohl er nur mit wenigen eigenen
Instrumenten und geringen Kompetenzen ausgestattet ist, so
könnte er zu einer besseren Sichtbarkeit der
europäischen Außenpolitik führen, auch im
Sinne einer alternativen Position in einer globalisierten und
gleichzeitig zunehmend unilateralen Weltpolitik.
DW: Kommen
wir zu einem weiteren Problem der europäischen
Aktualität: Europa aus kulturwissenschaftlicher Perspektive
soll eine europäische Identität formulieren, damit
das kulturelle Europa glaubwürdig ist bzw. wird. Ist eine
solche - wie unterschiedlich das letzte Verständnis auch immer
sein mag - europäische Identität überhaupt
anstrebenswert? Wäre es da nicht viel realistischer bzw.
wünschenswerter, deutsche, französische, belgische
und griechische Identität zu bevorzugen, unter dem Vorbehalt,
dass alle die universellen Werte akzeptieren z.B. Menschenrechte?
Kie: Eine
europäische Identität ist erstrebenswert und sie ist
notwendig für die Integration nach innen und für ein
starkes gemeinsames Auftreten nach außen. Das spezifisch
europäische Element einer solchen Identität besteht
im Zusammenwirken nationaler und regionaler Zugehörigkeiten
und der speziell europäischen Erfahrung universeller Werte.
Das aktuelle Problem ist nicht die Mangel einer europäischen
Identität - sie existiert bereits auf Grund der gemeinsamen
historischen und kulturellen Erfahrungen - sondern der fehlende
persönliche Bezug vieler Bürger zur EU.
Wir Europäer müssen den Mut haben, mehr Dialoge und
Begegnungen miteinander einzugehen, uns auf die anderen einzulassen und
gemeinsame Erfahrungsräume zu erleben. Nur so können
wir eine lebendige europäische Identität entwickeln.
Sie sollte als ein positiver gemeinsamer Bezugspunkt aller
Europäer funktionieren, aus dem sie ihre
Zugehörigkeit zur politischen Institution der EU beziehen.
DW: In
der Diskussion über eine europäische
Identität spielt ja auch der Begriff eines stark "christlich"
geprägten "Abendlands" eine wichtige Rolle. Inwiefern soll
hier ein lange tradiertes Modell des "Glaubens" im weitesten gefassten
Wortsinn das Europäische mit prägen, in was
für einem Verhältnis steht das
"Weltlich-Europäische" zu der Glaubenskomponente?
Kie: Europa
ist eine Wertegemeinschaft. Ihre normativen Grundlagen haben sich vor
allem aus dem Zusammenspiel von Christentums, Aufklärung und
Humanismus geschichtlich entwickelt. Daraus sind substantiell
bestimmbare Werte entstanden, die für die europäische
Union konstitutiv sind: Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung der
Vernunft.
Die EU braucht als politische Gemeinschaft Werte als Grundlage des
Zusammenlebens. Das Inkrafttreten des Verfassungsvertrags
würde den europäischen Wertekanon kodifizieren.
Entscheidend ist hier die Präambel: in ihr wird die zentrale
Stellung des Menschen, die Unverletzlichkeit und
Unveräußerlichkeit seiner Rechte und sowie der
Vorrang des Rechts in der Gesellschaft verankert.
Eine europäische Wertegemeinschaft ist offen für
diejenigen, die sich mit diesen Werten identifizieren, an sie glauben
und ihr Denken und Handeln danach ausrichten. Problematische
Situationen werden sich erst ergeben, wenn in der EU Menschen aus
verschiedenen Kulturen, Völker und Staaten zusammenleben,
deren Werte damit nicht vereinbar sind.
zurück
Interview der Staatsministerin Dr.
Christina Weiss mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut für
Europaforschung
1. Ist es eine
schwierige Aufgabe, im heutigen Deutschland im Dienste der Kultur zu
arbeiten? Wie überwinden Sie die bestehenden Hürden?
Die größte Schwierigkeit entstammt einem
Missverständnis: viele Menschen glauben, in einer Kulturnation
gehöre die Kultur zum Alltag und werde quasi frei Haus
geliefert. Kultur allerdings ist ein Prozess, dem man sich immer wieder
neu stellen muss und der sich nicht auf den Besuch von Museen und
Opernhäusern beschränken lässt. Dieses
Grundverständnis immer wieder neu zu vermitteln ist mein
größtes Anliegen. Ich will moderieren, reformieren
und nicht zuletzt auch etwas missionieren. Dabei stoße ich
als Vertreterin der Bundespolitik zwar immer wieder an die Grenzen
unseres föderalen Systems, in dem die Kulturhoheit der
Länder gut verankert ist. Gemeinsam mit den Ländern
nach innovativen Kooperationsmodellen zu suchen und die Kultur in allen
Teilen Deutschlands zu stärken ist jedoch eine schöne
Herausforderung, der ich mich gern stelle. Mit Freude stelle ich dabei
immer wieder fest, dass das erst 1998 geschaffene Amt der Beauftragten
der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) als
Ideengeber, als Ansprechpartner und Interessenvertreter der Kultur und
der Medien in Deutschland und in Europa anerkannt ist.
|
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2.
Können wir Deutsche behaupten, auf Grund unserer
deutsch-deutschen Erfahrungen ein besseres Verständnis und
Gespür für das Zusammenwachsen zwischen Ost und West
zu haben? Wie können wir diese Erfahrungen im
europäischen Raum umsetzen?
Seit 15 Jahren sammelt Deutschland einmalige Erfahrungen bei der
Aufgabe, Ost und West zu vereinen. Auf dieser Basis können wir
viel dazu beitragen, die Fragen der Osterweiterung der EU zu
lösen und den Transformationsprozess zu begleiten. Besonders
wertvoll sind hierbei natürlich die Erfahrungen, die die
Bürgerinnen und Bürger in den Neuen
Bundesländern sammeln konnten, denn sie können dazu
beitragen, die Brücke zwischen Ost und West zu befestigen und
das Trennende zu überwinden. Ganz intensiv arbeiten wir zum
Beispiel an grenzüberschreitenden Kulturbegegnungen, die einen
Überblick über die aktuelle Kunst in den einzelnen
Ländern liefern sollen, denn auch Kunst kann zu einem besseren
Verständnis und zum Abbau von Missverständnissen
beitragen. Es ist unsere Aufgabe, die Zukunft gemeinsam, friedlich und
in gegenseitiger Achtung zu gestalten. Wir müssen die
Erfolgsgeschichte des europäischen Vereinigungsprozesses in
den ost- und südeuropäischen Ländern
fortschreiben. Wir besitzen gemeinsam die Pflicht, das Erbe der
traditionsreichen Kulturlandschaften Europas zu pflegen und zu mehren.
Europa ist mehr als ein Binnenmarkt. Die kulturelle Identität
Europas bietet erst die geeignete Basis für wirtschaftliches
Interesse.
3. Welche Rolle sehen Sie für Deutschland in
der Herausbildung
einer europäischen Öffentlichkeit?
Die Erweiterung der Europäischen Union ist aus kultureller
Sicht die größte Herausforderung des neuen
Jahrhunderts. Deutschland, als Nahtstelle zwischen Ost und West,
bemüht sich daher sehr diesen Austausch auf
europäischer Ebene zu fördern und mitzugestalten. Es
geht darum, zu erkennen, was uns einst verbunden hat. Kulturelle und
historische Verbindungen, die in Jahrhunderten gewachsen sind,
müssen wieder aufgenommen werden. Wir wissen noch immer viel
zu wenig über unsere Nachbarn. Die europäische
Öffentlichkeit hat dabei die elementare Aufgabe, ihre
Wahrnehmung immer wieder zu überprüfen. Wir
müssen uns die Fähigkeit aneignen,
europäisch zu denken. Eine Intensivierung des interkulturellen
Dialogs ist da besonders wichtig. Europa ist eine Herausforderung
für uns alle und unser aller Aufgabe.
4. Kultur kann sowohl Verbindung als auch Grenze sein.
Daraus könnte sich ein Dilemma für den
europäischen Integrationskontext entwickeln, mit Auswirkungen
auf konkrete Probleme europäischer Zusammenarbeit. Wie
äußern sich derartige Probleme in Ihrem
Arbeitsbereich auf europäischer Ebene?
Kultur kennt keine Grenzen - im Gegenteil! Ich wäre
glücklich, wenn sich überall auf der Welt Probleme so
leicht - und so kulturvoll!- lösen ließen wie im
Bereich der Europäischen Kulturpolitik.
5. Wo und wie sehen Sie die Grenzen Europas?
Kulturell gesehen gibt es keine Grenzen in Europa. Kartographische
Grenzen sagen deshalb auch nicht viel über die
europäische Identität aus, wie die
vielfältigen geographischen und politischen
Definitionsmöglichkeiten zeigen. Jenes Europa beispielsweise,
das durch die Mitgliedschaft im Europarat definiert wird, endet an den
Grenzen zu China, Syrien und zum Irak. Zum Europa der OSZE
gehören Kanada und die Vereinigten Staaten. Europa als
kultureller Raum verläuft nicht in den Grenzen der
Europäischen Union. Es sind die gemeinsamen Werte und die
Kultur die Europa definieren.
6. Und zum Schluss haben wir noch eine
persönliche Frage:
Können Sie uns eine Situation schildern, in der Sie sich als
Europäerin gefühlt haben?
Wer beruflich in Budapest, Krakau, Prag oder Zagreb zu tun hat, wird
feststellen, wie gut manche Gesprächspartner deutsch sprechen.
Wie genau sie über die deutsche und französische
Literatur und Philosophie Bescheid wissen, ja, geradezu mit ihr gelebt
haben, wie genau sie sich in Heideggers später Seinslehre
auskennen. Im Gespräch mit den Menschen dort habe ich mich
insbesondere als Europäerin gefühlt. Interesse
füreinander zeigen, die Sprache des anderen erlernen, ganz
selbstverständlich die anderen europäischen
Länder bereisen macht für mich Europa aus.
Marie Fabiunke, 18.04.2005
zurück |
Heimat_Moderne,
Experimentale1 in Leipzig
Fern
ab von Bach, Buchmesse und Bahnhof formiert sich in Leipzig in diesem
Jahr ein spannendes
und viel versprechendes Ereignis - die Experimentale 1.
In drei Etappen eröffnen fünf leipziger Gruppen und
Institutionen neue Perspektiven auf ihre Stadt
und Stadt-Geschichte. Das ganze findet statt auf allen kulturellen
Ebenen: Musik, bildenden
Kunst, Architektur, Stadtplanung, Theater und Film. Unter dem Titel
"Heimat_Moderne" wird
die Stadt mit ihrem eigenen Erbe konfrontiert und neu befragt. Im
März und April wird dies
zunächst im "Musikviertel" geschehen, das selbst
beeindruckendes und architektonisches
Zeugnis städtebaulicher Dynamik ist: denn wer in Leipzig schon
einmal hier spazieren ging,
dem wird das skurrile Nebeneinander von Gründerzeitbauten,
Wohnscheiben und einzelnen
Hochhäusern kaum entgangen sein. Genau mit dieser Spannung
arbeitet beispielsweise das
Science-fiction-Hörspiel von Anne König und Jan
Wenzel, das die Hörer an der subjektiven
Hand der Figur Filo Maulers durch die Strassen des Musikviertels
führt - und diese durch Zeit-
und Raumreise neu erleben lässt.
Scharfe Zeitbrüche, Spannungen und immer wieder die Frage nach
dem überhaupt Denkbaren
verbindet die einzelnen Projekte in ihrer Auseinandersetzung mit
Geschichte und
Geschichten. Dabei beinhaltet der Topos "Heimat" in diesem Projekt
keine harmonisierte
Vorstellung
eines integren Ortes. Vielmehr trägt sich dieser Begriff hier
gerade durch die
Auseinandersetzung mit dem Verworfenen des einst Lebendig- und
Verheißungsvollen.
Durchleuchtet wird in diesem Projekt das (städtebauliche) Erbe
der sozialistischen Moderne -
nicht um nostalgischer Sehnsucht zu erliegen, sondern um die Fantasien
und Wünsche
wieder zu finden, die in der Moderne noch denkbar waren. Es geht hier
um die Suche nach
einem anzutretenden Erbe, das noch Utopien und noch keine
Unmöglichkeiten kannte -
ohne dem autoritären Gestus der Moderne zu verfallen, aber
eben auch
"jenseits postmoderner Abgeklärtheit", wie es dazu
im Programmheft heißt. Es geht um das Potential
der Moderne, nicht um deren Prophetie, Gesellschaftliches neu zu denken
und darum, sich mit
der Aktualität eines Erbes auseinanderzusetzen, das in
Deutschland allzu gern gemieden wird.
Diesem Deckmantel des Schweigens macht die Experimentale einen Strich
durch die
Rechnung. Die Stadt Leipzig, die im letzen Jahrzehnt eine Image-Politik
betreibt, die sich auf
Tradition und Schöngeist besinnt, wird in diesem Sommer
Schauplatz eines Ereignisses, auf das
sie ihr Augenmerk richten sollte. Denn nicht nur ist das Programm
spannungsreich
unterhaltungsvoll, noch vielversprechender ist das Bündnis,
das hier eingegangen wird. Es
handelt sich hier um ein gutes Beispiel möglicher
Kulturstrategien, die die Zukunft mehr und
mehr erfordern wird. Ein offenes Netzwerk lokaler Protagonisten, die
sich zusammen finden,
ergänzen und austauschen. Nicht wegen der viel besungenen
Synergieeffekte, sondern um
sich Themen und Fragestellungen zu widmen, die in einer
repräsentationsorientierten Stadt-
und Kulturpolitik keinen Platz und keine Gelder finden. Mit der
Gründung eines gemeinsamen
aber autonomen Trägers wurden die Gelder in diesem Fall von
der Kulturstiftung
des Bundes
erworben.
Strohfeuer statt Leuchttürme. Das was im Berliner Volkspalast
zentral gelenkt, scheint hier sein
lebendiges - und agileres - Gegenstück zu finden…
Es bleibt zu hoffen, dass sich in diesem
offenen System über dieses Jahr hinaus weitere Konstellationen
und Kräfte finden, um dieser
spannenden und spannungsreichen Stadt alle Geheimnisse und Erbschaften
zu entlocken -
denn derer ist sie reich.
Veranstalter:
Experimentale e.V. / Galerie für Zeitgenössische
Kunst Leipzig, raum4, Forum Zeitgenössischer Musik Leipzig
e.V., Büro für urbane Projekte, General Panel.
Homepage:
www.heimatmoderne.de
Nina Brodowski, 18.03.2005
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Kein Grund zum Pessimismus, es gibt ja noch die Kultur!
Eine Kultur der Beliebigkeit und Mittelmäßigkeit
lähmt Deutschland. Wir sitzen in einer selbstverschuldeten
Falle der Eitelkeiten und Rechthaberei und kritisieren bis zum
Erbrechen die allgemein herrschende Ratlosigkeit. Manche von uns suchen
nach Sündenbocken andere zeigen ehrliche Betroffenheit und
wenn es ernst gemeint ist, beauftragen wir Expertenausschüsse,
damit das Problem laut- und klanglos vom öffentlichen Diskurs
entsorgt wird.
Wenn das alles nicht mehr hilft … dann kommt der zur
Bedeutungslosigkeit entmachtete Begriff Kultur! Kultur als die Rettung
vom Kulturpessimismus?
Der Schrei nach Kultur in schlechten Zeiten soll die Hoffnung auf gute
Zeiten inszenieren, denn allein ihr Begriff beseelt die erstarrte Welt
mit der Erinnerung von Erhabenheit und individueller Freiheit. Europa
eine Seele geben hieß zum Beispiel der symphonisch
formulierte Auftakt einer Berliner Veranstaltung, präsentiert
und gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes mitten in
hoffnungslos konjunkturschwachen Zeiten. Es verging nicht viel Zeit bis
der europaferne und trostlose Berliner Alltag zurückkehrte.
Man brauchte nicht viel Fantasie um zu erkennen, dass das Ziel nicht
unbedingt Europa eine Seele zu geben war, sondern Deutschland von
seiner inszenierten Misere abzulenken.
Nun treten scheinbar die Intellektuellen, als die letzte Garde der
Kräfte heran, um endlich Tacheles zu reden. Sie kritisieren
die Kultur und die Wissenschaft, dämonisieren Dekonstruktion
und intellektuellen Avantgardismus, der Kreis schließt sich,
wir sind wieder Gefangene unserer Kultur.
Kultur hat ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten. Mehr als
ein Begriff ist sie die unerschöpfliche Bewegung des
menschlichen Tuns und Gestaltens. Deshalb greifen wir nach ihrem
Begriff sobald unser Tun und Gestalten bewegungslos geworden sind,
sobald ein Taubheitsgefühl unseren kulturellen Körper
heimsucht. Ihre Dynamik macht es uns schwer die Sinnsequenzen zu
begreifen, was nicht bedeutet, dass sie sinnlos ist.
Die Kultur sind wir, sie ist durch uns von uns und für uns.
Sie ist sowohl unsere geistige Tätigkeit, das
Gefühlsarchiv wie auch unmittelbares Arbeitsprodukt, so sind
ihre Bedeutungsschichten auch die unserer kollektiven und individuellen
Sinnwelten.
Die Erlösung aus der allgemeinen Starrheit ist nicht durch
standardisierte Formen zu erreichen; um mit dem Spiel der Kultur
Schritt zu halten brauchen wir vor allem einen analytischen Blick und
unerschöpfliche Erfindungskraft, zwei Eigenschaften, die wir
vor allem durch Bildung, Forschung und Ausbildung forcieren
können. Denn wie John Dewey bereits formuliert hat "Creation,
not acquisition, is the measure of a nation's rank; it is the only road
to an enduring place in the admiring memory of mankind."
Deshalb muss die Politik die Rahmenbedingungen für den freien
Lauf der Erfindungskraft schaffen und nicht im Namen und auf Kosten der
Kultur Politik machen.
Elize Bisanz (17.03.2005)
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Deutsch-deutscher Einigungsprozess auf neuer Stufe:
Schlagabtausch auf dem Weg Richtung Boden der Tatsachen?
Von heutiger Warte fällt es zweifelsohne schwer, das Bild der
`blühenden Landschaften´ aus den frühen
Stunden deutscher Einigungseuphorie wachzurufen. Die Worte vom `Vollzug
der Einheit´ deuten an, dass sich Politiker beider Seiten
bereits am Ziel glaubten. Die Kassandrarufe Christa Wolfs wie
Günter Grass´ wurden überhört.
Warum es vielleicht gerade die Literaten waren, die Weitblick bewiesen,
mag Musils Überlegung zur `perspektivischen
Verkürzung des epischen Verstandes´
erklären: Die Geschichte einer Trennung muss in der
Vereinigung ihr glückliches Ende finden. Ein uraltes
Erzählmuster, das schon von den Alten Griechen gesponnen
wurde. Helden wie etwa Leukippe und Kleitophon treffen aufeinander,
verlieben sich, um kurz darauf vom Schicksal getrennt zu werden und
einer Kette von Abenteuern ausgesetzt zu sein. Als einziges Ziel die
Vermählung vor Augen, die als sie immer unwahrscheinlicher
wird auch erfolgt. Die Abenteuerzeit hat keine Spuren hinterlassen.
Unverändert treten sie vor den Traualtar.
Nur für die Geschichte der deutschen Wiedervereinigung
hätte sich wohl Voltaires berühmte Parodie dieses
Musters besser geeignet. Im Candide hat der Autor
die Zeit der Abenteuer berechnet und lässt Kunigunde und
Candide gealtert und gezeichnet die Ehe schließen. Doch
während Candide sehr direkt ausspricht, dass das Traumbild in
seiner Verwirklichung gänzlich anders ausschaut, stellte es im
geeinten Deutschland lange Zeit ein Tabu dar, öffentlich
über die Veränderung des `Anderen´ zu
sprechen. Die `andere´ Vergangenheit, das betraf die
DDR-Vergangenheit, wurde jenseits von `Aufarbeitung´ in
Schweigen gehüllt, um die `Einheit´ nicht zu
stören. Erst Jana Hensel leitete mit ihrem Essay Zonenkinder
(2002) die Wende ein. Der Boom der Ostalgieshows (2003) konnte
schließlich zu Normalisierung und gleichberechtigtem
Nebeneinander von Pop-Gymnastik und Dance Aerobic beitragen. Doch wie
Wolfgang Herles Polemik Wir sind kein Volk (2004)
nahe legt, sieht die Wirklichkeit anders aus als die Fernsehwelten: Wir
sind noch immer nicht angekommen - im Gegenteil. Anstatt einer
Annäherung zeigt die Demoskopie ein fortwährendes
Auseinandertriften von Ost und West an, Unmut gar Wut wachsen auf
beiden Seiten. In Form einer "längst fälligen
Abrechnung unter Brüdern und Schwestern" geben Michael
Jürgs und Angela Elis den deutsch-deutschen Befindlichkeiten
jetzt eine Stimme. Im Schlagabtausch werden die unbequemen Wahrheiten
wie "Ihr habt uns belogen" vs. "Ihr habt uns ausgesaugt" ausgesprochen.
Was nach Ehekrach im Hause Deutschland klingt, wirft die Frage auf, ob
sich hier ein lange aufgestautes Gewitter entlädt und die Luft
danach klarer werden lässt. Sind wir dem Boden der Tatsachen
ein Stück näher gekommen? Fatal wäre es
allerdings, wenn sich die Seiten im Streit verstricken und ein typisch
Ossi - typisch Wessi fester schreiben als es vielleicht ist. Eine
Schwarz-Weiß-Malerei kennt keine Graustufen, kennt kein
pOst-West.
Wer Voltaire gelesen hat, der kennt jedoch die weisen(den) Worte
Candides: "Wohl gesprochen, aber wir haben in unserem Garten zu
arbeiten."
Michael Jürgs/ Angela Elis
IHR IM OSTEN, IHR IM WESTEN
Eine längst fällige Abrechnung
C.Bertelsmann
Februar 2005
Melanie Fröhlich (5.03.2005)
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Das
Museum über Europa wird 2007 Realität - und leistet
einen weiteren Beitrag zu europäischer
Identitätsbildung
Seit Jahren in aller Stille geplant, soll das "Musée de
l'Europe" im Jahr 2007 zum fünfzigjährigen
Jubiläum der Römischen Verträge in
Brüssel eingeweiht werden, direkt vor dem Sitz des
Europäischen Parlamentes. Der ihm zugewiesene Auftrag wird
sein, den europäischen Einigungsprozess darzustellen. Das
impliziert die Geschichte der Europäischen Union seit dem Ende
des Zweiten Weltkriegs, geht jedoch auch zurück bis zur
Einheit des Christentums, behandelt die Religionskriege, die Bewegung
der Aufklärung sowie europäische ideologische Kriege.
Das Europa der Europäischen Union soll darüber hinaus
in seiner Entstehung und Entwicklung als Gegenstand der bewahrenden
Betrachtung dargestellt werden, die Besucher als europäische
Staatsbürger ansprechen. Es wird darüber hinaus
erläutern, in welcher Weise das nationale
Selbstverständnis und nationale Traditionen in der
Europäischen Union einen neuen Bezugspunkt gefunden haben.
Die Ausstellungsfläche von 6.000 Quadratmetern wird sich in
eine 2.000 Quadratmeter große Dauerausstellung mit variablen
Plätzen sowie in eine Abteilung mit Wechselausstellungen
gliedern.
Die jährliche Zahl von 400.000 Besuchern des
Brüsseler EU-Viertels lässt dabei auf eine hohe
Besucherzahl des Museums schließen. Finanziell gespeist wird
das "Museum Europas" zum einen vom belgischen Staat, zum anderen aber
auch von gegenwärtig achtzehn Sponsoren, unter ihnen BASF, von
belgischen Stiftungen sowie von dem Europäischen Parlament und
der Kommission.
Die ständige Erweiterung, der Integrationsprozess macht ein
derartiges Vorhaben für die Europäische Union schon
längst erforderlich, ein stärkeres Bemühen
zur Selbstbenennung notwendig. Das Museum wird hierbei einen zentralen
Beitrag leisten.
|
Den zündenden
Gedanken respektive die dafür notwendige Initiative ergriff
vor einigen Jahren Benoît Remiche, der in der
Europäischen Kommission und als Vorstand der Belgischen
Telekom tätig war. Er begeisterte für das
"Musée de l'Europe" Politiker wie die belgische Ministerin
Antoinette Spaak, die Tochter des großen Europäers
Paul-Henri Spaak, sowie den ehemaligen Vizepräsidenten der
Europäischen Kommission, Karel Van Miert. Zusammen
gründeten sie eine Vereinigung, die dem Vorhaben eine
juristische Form gab. Ein wissenschaftliches Komitee begleitet dieses.
Um das Museumsprojekt hat sich ferner ein Ring von
europäischen Museen gebildet, darunter das Deutsche
Historische Museum in Berlin, das Haus der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland in Bonn und der Maison Jean Monnet in Paris.
Christina Frank (23.01.2005)
Weitere Quellen: Faz, 10.12.2004
|
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Witzige
Bilderkonferenz? - zur Eröffnung des neuen Leipziger Museums
der bildenden Künste
Witzig und heiter soll es nach der Zeit
(2.12.2004, Nr. 50) im neuen Leipziger Museum der bildenden
Künste zugehen: Anstatt das Nebeneinander von Tintoretto, El
Greco und Tübke als ernsthaftes Fragen nach Vergangenheit und
Gegenwart zu lesen, sieht die Zeit dieses Fragen "mit
subversivem Witz variiert, was dem Betrachter nicht nur
Vergnügen bereitet, sondern auch seine eigenen
kombinatorischen Kräfte aktiviert."
Man kombiniere: Im Untergeschoss des neu eröffneten Leipziger
Museumsbaus begegnen sich unter dem Titel "Die Konferenz der
Bilder" Werke aus dem östlichen und westlichen
Teil der Republik. Fast etwas zu didaktisch erleichtert die Bezeichnung
"Konferenz der Bilder" das Kombinieren. Unweigerlich
wird damit ein Bedeutungsnetz aufgespannt, in das das Ereignis
Bilderstreit mitsamt seinen verschiedensten Elemente
(Gerichtsverhandlungen, Schlagabtausche in Presse und
Besucherbüchern usw.) eingeknüpft ist bzw. sein
sollte. Doch der Wink mit dem Zaunpfahl scheint nicht kräftig
genug.
Zugeben die Phase der offenen Konfrontationen hat sich gelegt,
sensationelle Kraftausdrücke sind kaum mehr zu erwarten. Doch
muss nicht gleich Heiterkeit und Witzigkeit aufkommen. Vielmehr wird im
neuen Leipziger Museumsbau ein kultureller Prozess, vor allem der
letzen 15 Jahre, in das Feld einer breiteren Sichtbarkeit
gerückt.
Es geht um die sich als irrtümlich erwiesene Auffassung, sich
sowohl der eigenen als auch der anderen Vergangenheit zu entledigen.
Einst zu vorschnell und unbedacht als Staatskunst abgekanzelte
künstlerische Ausdrucksformen werden wieder in die Zeit und in
einen neuen Zusammenhang gesetzt, was vor allem für die
Gegenwartskunst und deren Suche nach neuen Formen relevant ist. Genau
in dem Überschreiten der kulturellen dichotomischen
Ost-West-Muster, die sich vor allem im Bilderstreit deutlich
abzeichneten, ist die Bedeutung der sogenannten neuen Leipziger Schule
zu suchen. Verständlich ist somit ihre besondere Position
innerhalb der neuen Ausstellungsarchitektur.
Im Leipziger Museum zeugt die Kunst und ihre Repräsentation
von der Möglichkeit einer Konferenz zwischen unterschiedlichen
Vergangenheiten und den sich daraus ergebenen, bereits beschrittenen
Perspektiven. Offen bleibt die Frage, ob die gesellschaftliche
Entwicklung der Kunst in ihrer Vorreiterrolle folgen wird. Auch wenn die
Zeit "die Spannung beim Zusammentreffen von Daniel Richter (Gegenwart,
Hamburg) und Neo Rauch (Gegenwart, Leipzig) entsorgt" sieht
und die Studio-Begegnung zwischen Klinger und Kumrow als produktive
Heiterkeit beschreibt, scheint dies noch nicht für den
allgemeinen gesellschaftlichen Zustand bezeichnend.
Um nochmals auf die Aktivierung der kombinatorischen Kräfte
der Besucher zurückzukommen: Es versteht sich von selbst, dass
das in Leipzig Wahrzunehmende über eine deutsch-deutsche
Problematik hinausgeht. Man kombiniere: Der in Deutschland vor 15
Jahren beginnende Annäherungsprozess findet in komplexeren
Dimensionen auf europäischer Ebene statt. Das
Auseinandersetzen mit verschiedenen Vergangenheiten und somit auch
Gegenwarten ist Voraussetzungen für eine offene
europäische Identität, die nicht den Weg einer
Konstruktion durch den Ausschluss eines Anderen und Fremden
einschlägt. Die momentanen Ereignisse zeigen, dass Begriffe
wie Heiterkeit und Witzigkeit alles andere als zutreffend sind.
Marlene Heidel (12.12.2004)
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Kulturpolitik
aktiv betreiben - Holberg-Preis für Julia Kristeva
Dass mit der Vergabe von Auszeichnungen aktiv Politik betrieben werden
kann, beweist die aktuelle Verleihung des
Holberg-Gedächtnispreis an Julia Kristeva. Der erstmalig von
der norwegischen Ludwig-Holberg-Stiftung vergebene und mit einer halben
Million Euro dotierten Preis wurde ihr für
außerordentliche Leistungen zwischen Kultur-,
Literaturwissenschaft und Linguistik zugesprochen. Kristeva habe die
feministische Theorie gefördert und die Geisteswissenschaften
in ihrer Gesamtheit beeinflusst, so die Jury. Die französische
Philosophin leitet zur Zeit die Abteilung "Science des textes et
documents" an der Universität Paris VII.
Christina Frank (08.12.2004)
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"Aber das grundlegende Problem, das diese
Arrangements hemmt, die Juristen und Politiker unter dem wechselnden
Zwang nationaler ökonomischer Erfordernisse dabei sind
einzurichten, ist eher psychologischer, wenn nicht metaphysischer Art.
Da ein neues gemeinschaftsstiftendes Band fehlt - eine Heilsreligion,
die die Masse der Umherirrenden und Differenten in einen neuen
Konsensus einbinden würde, einen anderen als den
von‚ mehr Geld und Güter für alle -, sind
wir das erste Mal in der Geschichte dazu gezwungen, mit anderen, von
uns gänzlich Verschiedenen zu leben, und dabei auf unsere
persönlichen Moralgesetze zu setzen, ohne dass irgendein
unsere Besonderheiten umschließendes Ganzes diese
transzendieren könnte. Eine paradoxe Gemeinschaft ist im
Entstehen, eine Gemeinschaft von Fremden, die einander in dem
Maße akzeptieren, wie sie sich selbst als Fremde erkennen.
Die multinationale Gesellschaft wäre somit das Resultat eines
extremen Individualismus, der sich aber seiner Schwierigkeiten und
Grenzen bewusst ist - der nur Irreduzible kennt, die bereit sind, sich
wechselseitig in ihrer Schwäche zu helfen, einer
Schwäche, deren anderer Name unsere radikale Fremdheit ist."
(Julia Kristeva Fremde sind wir uns selbst)
|
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Zwei Fliegen mit einer
Klappe…im zweiten Anlauf.
Die neue EU-Kommission und der Europäische Verfassungsvertrag
Die neue EU-Kommission ist ins Amt gewählt - und die
Unstimmigkeiten über die Personalfragen und die Divergenzen
zwischen Kommission und EU-Parlament - nennen wir sie ruhig
Machtkämpfe - sind schon fast vergessen.
Ein kurzer Blick zurück eröffnet einen Einblick in
die aktuelle politische Wirklichkeit der EU:
Die Zeit, an dem die Diskussion über die Barroso-Kommission
ihren Höhepunkt erreichte war gleichzeitig der Moment, an dem
der Europäische Verfassungsvertrag von den
europäischen Staats- und Regierungschefs unterzeichnet wurde.
Die Unterzeichung am 29.10. in Rom wurde von europäischen
Politikern als historischer Moment gefeiert. Neben aller klangvoller
Rhetorik, zeigt sich hier, dass sich die Europäer- oder
zumindest die von Ihnen gewählten Politiker - einig sind
über die gemeinsamen Grundlagen der Europäischen
Gemeinschaft; vor einigen Jahren wäre dies noch undenkbar
gewesen.
Gleichzeitig stritten die europäischen Politiker über
Personalfragen der ersten Barroso-Kommission und dabei gleichzeitig
über die Machtverhältnisse der europäischen
Institutionen - Parlament gegen Kommission. Und das, obwohl unser
Bundeskanzler Gerhard Schröder den Streit beschwichtigen
wollte, und sich für eine EU nach den drei Leitprinzipien
Friede, Freude, Eierkuchen einsetzte. Die Fronten des Streits
über das Team der Kommission verliefen nicht an nationalen,
sondern an (partei-) politischen Grenzen nach dem bekannten
Rechts-Links-Schema - die Integration einer europäischen
parlamentarischen Streitkultur erscheint in der Praxis einfacher als
theoretisierende Euro-Skeptiker behaupten.
Mit einem neuen Team, einem neuen Anlauf - und drei Wochen
Verspätung- wurde die Kommission des Herrn Barroso vom
Europäischen Parlament (EP) angenommen. Und dabei zeigte sich:
Der Wind im Parlament weht von rechts, vor allem Konservative und
Liberale konnten sich in der neuen Kommission verwirklicht sehen,
Grüne und Linkssozialisten stimmten mehrheitlich gegen die
neue Kommission, die Sozialdemokraten gaben insgesamt kein
geschlossenes Votum ab, sondern verteilten sich solidarisch auf die
Lager Zustimmung, Ablehnung und Enthaltung. Das EP geht insgesamt als
Sieger hervor, denn mit dem Votum für die zweite
Barroso-Kommission ist gleichzeitig eine Ausweitung der
parlamentarischen Kontrollrechte verbunden.
Wie geht es nun weiter? Die neue Kommission will, so Barroso, so
schnell wie möglich mit der Arbeit beginnen und kann sich
dabei der kritischen Aufmerksamkeit des EP gewiss sein.
Und die Verfassung? Nachdem sich die europäischen Staats- und
Regierungschefs auf den Verfassungsvertrag geeinigt haben, steht nun
der erste Ratifizierungsdurchlauf an. Dafür sind zwei Jahre
vorgesehen, die EU-Verfassung könnte also frühestens
im November 2006 in Kraft treten - zumindest teilweise. Einige
Regelungen wie die zur Zusammensetzung der künftigen
EU-Kommission sollen nach bisherigem Stand ohnehin erst ab 2009 gelten.
Ob die Europäerinnen und Europäer sich mit Ihrer
zukünftigen Verfassung identifizieren, wird davon
abhängen, ob sich um diese Frage eine öffentliche
Debatte [link: http://europa.eu.int/futurum/]
entfachen wird. Hier werden die kommunikativen Impulse der
EU-Institutionen und -Politiker gefragt sein. In diesem Sinne wird die
schwedische EU-Kommissarin Margot Wallström das neu
geschaffene Ressort "Institutionelle Beziehungen und
Öffentlichkeitsarbeit" übernehmen und soll dabei vor
allem für Akzeptanz für die europäische
Verfassung in den nationalen und der europäischen
Öffentlichkeit zu werben - oder sie zumindest um
öffentlichen Kommunikationsraum platzieren.
Man darf gespannt sein!
Marie Fabiunke (23.11.2004)
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Der
deutsche Pavillion der Architekturbiennale - Architektur ist nicht zum
Lachen!
Bravo Miss Furguson - Sie haben
Architektur gekonnt platt gemacht! Der deutsche Pavillon der
Architekturbiennale in Venedig beeindruckt mit seinen riesigen Kollagen
in Form von Panoramabildern,
es wird versucht die komplexe Struktur der Stadt mit all ihren
Lichtungen und Sackgassen zu inszenieren. Wie soll eine
Zweidimensionalität, was Kollagen und jegliche Arten von
Bildern nun einmal sind, Architektur vermitteln oder gar
erläutern? Ein bloßes Bild von Architektur ergibt
aber keine Architektur. Wird hier nicht versucht, mit
architekturfremden Aktionen zu verschleiern, von dem eigentlichen
Problem abzulenken? Nämlich, daß die neue Generation
der Architekten leider ihr Handwerk zum Großteil selbst
entwerten, nur um sich nicht noch größeren und den
eigentlichen Konflikten zu stellen? Philip Johnson hat einmal gesagt,
eine Ausstellung sei mit Abstand die beste Methode, dem Publikum auf
einleuchtende Weise alle Aspekte einer neuen Stilrichtung zu
präsentieren. Weiterhin sagt er, "die Entwicklung einer
konstruktiven Kritik und Diskussion hängt davon ab, ob man dem
Publikum Kenntnisse der heutigen Leistungen auf diesem Gebiet
vermittelt." Aber kann eine Kuratorin, die übrigens nicht die
Ausbildung einer Architektin genossen hat, überhaupt in der
Lage sein, dieses zu erreichen? Überraschend, erfinderisch,
mutig, spielerisch, neuartig und auch humorvoll beschreibt der Sponsor,
das Bundesministerium für Verkehr, die Ausstellung
"Deutschlandschaft". Die Abwendung vom elitären, humorfreien
Ästhetizismus wird gelobt. Doch was ist das für ein
Mut, wenn man sich mangels Kenntnissen von jeglichen architektonischen
Methoden und Produktionsweisen abwendet und stattdessen zu
künstlerischen Kollagen zurückgreift? Und wieso
sollte Architektur humorvoll sein? Um bei dem Besucher gut anzukommen?
Ist dieses Adjektiv der Architektur überhaupt würdig?
Ich glaube nicht. Architektur soll nicht amüsieren oder gar
zum Lachen bringen, es sei denn unsere Gesellschaft ist zum Lachen,
denn Architektur ist nur Produkt einer reflexiven Auseinadersetzung mit
sich selbst, eingebettet in der jeweiligen Gesellschaft. Wir
müssen endlich begreifen, dass Architektur ihre eigenen Mittel
hat, ihre eigene Sprache hat, um sich selbst auszudrücken.
Und solange wir dieser Sprache nicht mächtig sind, solange wir
das Architektur-ABC nicht erlernt haben, sollten wir unsere Finger
davon lassen.
Vart Bisanz (12.11.2004)
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Jelineks
Nobelpreis ein Volltreffer - die Zeit voll getroffen!
"for
her musical flow of voices and counter-voices in novels and
plays that with extraordinary linguistic zeal reveal
the absurdity of society's clichés and their subjugating
power"
(Das Schwedische Nobelpreiskomitee)
"Wenn
man den Preis als Frau bekommt, dann kriegt man ihn
auch als Frau, und kann sich nicht uneingeschränkt freuen."
(Elfriede Jelinek)
Es brauchte kaum hellseherischer Kräfte, wie die Reaktionen
auf die Nobelpreisnominierung Elfriede Jelineks beweisen, muss die
Freude eine getrübte bleiben. Nur, dass der frauenfeindlichste
aller Artikel ("Die Heilige der Schlachthöfe", in: DIE ZEIT
Nr.43, 14. Oktober 2004) von einer Frau kommen muss, stimmt bedenklich.
Auch wenn es sich hierbei um Iris Radisch handelt, die - wie wir
erinnern - nach bekanntem Eklat kein Problem hatte, als Quotenfrau
für Sigrid Löffler dem Literarischen Quartett
beizutreten.
Die Revolution frisst ihre Kinder, wenn Radisch der
Nobelpreisträgerin Menschenfeindlichkeit unterstellt. Mit
Lebensarmut beginnend, gipfeln die Abwertungen der Person Jelineks
schließlich in dem Bild einer Müllproduzentin, die
Erfahrungen aus zweiter Hand verkauft (denn fernsehsüchtig ist
die Jelinek auch!). Dabei verwechselt die Kritikerin allzu oft Leben
und Werk, reißt Aussagen der Autorin aus jeglichem
Zusammenhang, um die Fetzen (die lediglich sich selbst illustrieren)
ein entstelltes Bild abgeben zu lassen. Menschenverachtend ist aber vor
allem, wenn Radisch in den Werken Jelineks nichts anderes sehen will
als Verzweiflungstaten. So lautet der konstruierte biographische
Zusammenhang (direkt neben dem Bild der Autorin positioniert): "1967
erleidet sie einen Nervenzusammenbruch und beginnt zu schreiben." Doch
Frau Radisch sei für ihr blindwütiges
Um-Sich-Schlagen entschuldigt, ihr Geständnis ist dem Artikel
als Aufhänger mitgegeben: "Der Literaturnobelpreis
für Elfriede Jelinek ist ein Schock, von dem sich noch niemand
ganz erholt hat."
Dass die Bedeutung der Werke Jelineks jenseits der Vita der Autorin und
eines österreichischen Regionalismus aufzuspüren ist,
erklärt die Begründung des Schwedischen
Nobelpreiskomitees eindrucksvoll. Und deshalb erhält Elfriede
Jelinek den Nobelpreis für Literatur, nicht weil sie eine Frau
ist und noch weniger, weil Karl Kraus und Thomas Bernhard leer
ausgegangen sind.
Wir gratulieren Elfriede Jelinek zum Nobelpreis 2004.
Melanie Fröhlich (18.10.2004)
Link
zu Elfriede Jelineks Nobelvorlesung
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Abschied
vom Derrida, dem Philosophen des lebendigen Denkens
In seinem letzten Gespräch in Lettre Internationale begegnet
Derrida der Unausweichlichkeit des Sterbens mit der
Unerschöpflichkeit der lebendigen Philosophie:
"Nein,
ich habe niemals leben-gelernt. Ganz und gar nicht! Zu leben lernen,
das müsste bedeuten, zu sterben lernen, zu lernen, der
absoluten Sterblichkeit (ohne Heil, weder Auferstehung noch
Erlösung - weder für sich selbst noch für
den anderen) Rechnung zu tragen, um sie zu akzeptieren. Seit Platon
lautet der philosophische Imperativ: Philosophieren heißt
sterben lernen." |
|
Der Titel Derridas Vorlesungen und Seminare für das
Wintersemester 2004-2005 lautete Questions de
responsabilité: Le parjure et le pardon. La peine de mort.
La bête et le souverain. Jeder der ihn an der l'ecole des
Hautes Etudes en Sciences Sociales erlebt hat, kennt die ansteckende
Lebenskraft seiner Stimme. Eindringlich und behutsam hat uns der
große Denker in das Wunderland des philosophischen
Ereignisses geführt, heftige Kritik stets mit einem
beruhigenden Lächeln erwidert und in großer
geduldiger Ruhe die Unverzichtbarkeit der dekonstruktiven Arbeit
vorgelebt. Sie werden sich seine Abwesenheit im Hörsaal 105 bd
Raspail nicht vorstellen können. Derrida lesen ist das
Erfahren des Denkrhythmus, Derrida hören war immer das
Gestalten der Denkarchitektur.
Derridas Abschied markiert auch eine Ankunft an der Dekonstruktion.
Wohin geht der Weg? Wo finden wir ihre Spuren?
"Was ich ‚Dekonstruktion' nenne, ist, selbst wenn es gegen
irgend etwas an Europa gerichtet ist, europäisch, es ist ein
Produkt, ein Selbstbezug Europas als Erfahrung der radikalen
Andersheit. Seit der Aufklärung ist Europa in permanenter
Selbstkritik begriffen, und in diesen vervollkommungsfähigen
Erbe liegt eine Zukunftschance. Zumindest hoffe ich das, und genau dies
nährt meinen Unwillen gegenüber Reden, die Europa
definitiv verdammen, als wäre es einzig der Ort seiner
Verbrechen."
Mit diesem letzten Satz zu Europa, in seinem letzten Interview, reicht
uns Derrida die Verantwortung der dekonstruktiven Arbeit für
die Zukunftschance Europas weiter.
Elize Bisanz, 18.10.2004
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