K ulturwissenschaftliches Institut für Europaforschung


    Melanie Fröhlich (Frankfurt/Oder, Juni 2005)
    Wenn der Lebensfaden reißt...
    Zur Stilisierung des `Sinnsprungs´ in Terézia Moras biographischen Roman "Alle Tage" (2004)

    Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive begreifen wir Literatur als symbolische Form, d.h. als ein Sichtbarmachen von Wirklichkeit durch Gestaltung (Cassirer). Dabei ist eine Wechselwirkung zwischen Literatur und Wirklichkeit anzunehmen und die symbolische Form folglich in zweifacher Weise bedingt: kulturell und historisch. Eine sich verändernde Wirklichkeitserfahrung und Weltwahrnehmung fordern zur Erweiterung der Ausdrucksformen auf. Deshalb ist es möglich, über die Wandlung des ästhetischen Zeichens Erkenntnisse über gesellschaftliche Veränderungen zu gewinnen, was anhand eines aktuellen und brisanten Beispiels nachvollzogen werden soll. Im Diskurs um den europäischen Einigungsprozess im Zuge der `EU-Osterweiterung´ ist immer wieder von der Transformation der ehemaligen Ostblockstaaten in wirtschaftlichem wie politischem Sinne die Rede. Zwar wird nach und nach erkannt, dass die Einigung Europas nicht an einer Diskussion der kulturellen Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten vorbeigehen kann, nichtsdestotrotz scheint die kulturelle Dimension der Transformationserfahrung weitestgehend unerforscht. Exemplarisch wollen wir den Konsequenzen einer Brucherfahrung für ein biographisches Erzählen nachgehen, wie es sich am Beispiel Terézia Moras unlängst erschienen Roman "Alle Tage" (2004) darstellt. Was passiert, wenn der `Sinnsprung´ den Lebensfaden reißen lässt und weiter noch der Umbruch vom Kind zum Erwachsenen mit einem politischen Umbruch zusammenfällt?
    Für die Linie des biographischen Romans versuchen wir die Wandlung des ästhetischen Zeichens anhand dreier Beispiele zu veranschaulichen. Wir setzen bei Goethes Entwicklungsroman "Wilhelm Meisters Lehrjahre" (1795) an, der zur Ausbildung der heute symbolgewordenen Vorstellung vom Lebensfaden als Erzählmuster einer Lebensgeschichte beitrug. Etymologisch entsteht der Begriff der Entwicklung im 18.Jahrhundert und im Kontext der aufklärerischen Bildungsidee. Im Sinne von `Verwickeltes entwirren´, ist die Ent-Wicklung des Lebensfadens impliziert (Vgl.: "Der Faden seines Schicksals hatte sich so sonderbar verworren; er wünschte die seltsamen Knoten aufgelöst und zerschnitten zu sehen." Lehrjahre, 250). Mit der Geschichte kann sich der Charakter ent-falten, kann sich die Natur des Menschen ausbilden. Im Zeitalter der Klassischen Moderne melden sich Zweifel an diesem Modell, wofür wir stellvertretend Musils "Mann ohne Eigenschaften" (1930/32) heranziehen, dessen Protagonist den Lebensfaden bzw. den Faden der Erzählung als `perspektivische Verkürzung des epischen Verstandes´ kritisiert und nach Alternativen sucht. Während in der Moderne die gesellschaftlichen Ausdifferenzierungsprozesse und die Komplexitätssteigerung des Wirklichkeitsverständnisses die lineare Aneinanderreihung von Handlungen und Charakterzügen fragwürdig werden lässt, scheint die nach 1989 einsetzende Transformationserfahrung demgegenüber mit einem `Sinnsprung´ zu konfrontieren. Auch hier bricht die Erzählung aus dem Fluß der Zeit aus und folglich mit dem Lebensfaden, aber die Besonderheit scheint in der Stilisierung des Sprungs zu liegen. Um Aussagen über die Transformationserfahrung treffen zu können, ist sowohl eine synchrone als auch diachrone Perspektive erforderlich, aus deren Schnittstelle unsere Analyse ihre Erkenntnisse gewinnt. In Orientierung an Bachtin arbeiten wir synchron mit den Größen Held, Idee und Sujetkomposition und stellen sie in den Kontext ihrer kulturellen und historischen Bedingtheiten.


___ zurück