K ulturwissenschaftliches Institut für Europaforschung


    Melanie Fröhlich (Magisterarbeit, Februar 2005)
    Zeitkonzeptionen:
    Zur Kritik der aktuellen Erzählforschung aus kulturwissenschaftlicher Perspektive


    Ausgangsproblem: Zeitdominanz in der `klassischen´ Erzähltheorie

    Satz 1:
    Konzeption einer Form-Inhalt-Opposition und Übertragung auf eine Zeit-Raum-Opposition begründet die Trennung der Zeit- von der Raumdimension und konstituiert die Zeitdominanz als Unterordnung des >Raumes< unter die >Zeit<, indem >Raum< eine für die erzählung konstitutive funktion abgesprochen wird.

    Satz 2:
    Basis dieser Konzeption bildet eine Verzeitlichungstendenz in der Literaturwissenschaft, die sich aus zwei Quellen speist: aus einem Sprach- bzw. Textverständnis und aus einem Literaturverständnis, die gleichermaßen die zeitliche Dimension, sei es im Bild des Fließens, der Linearität oder der Chronologie, betonen.

    Satz 2a:
    Das auf die Zeitdimension einseitig ausgerichtete Sprachverständnis (i.S.v. "Zeitfluß" für Müller und Lämmert und "Sukzession" in Anlehnung an Lessing) bzw. Textverständnis (i.S.v. "Zeit des Textes" für Genette in Anlehnung an Todorov) setzt die Erzählung mit dem Medium gleich und übersieht die künstlerische Formierung (Form), die weitere Potentiale des Mediums erkennen lässt.

    Indem die sprachliche Sukzession für die Erzählung auf ein Ende zuläuft und demnach ein teleologisches Prinzip impliziert, wird die Erzählung vornehmlich als geschlossene Form gelesen. Dem steht die Vorstellung einer "Zirkulation des Sinns" (vgl. Genette 1972, 39) gegenüber, ermöglicht durch den Dialog zwischen verschiedenen `Texten´, die die Erzählung den Zeitstrahl verlassen und in den Raum der Koexistenz, Gleichzeitigkeit und wechselseitigen Beeinflussung (vgl. Bachtin 1929) eintreten lässt.

    Satz 2b:
    Die Orientierung an einer konventionellen Ausprägung der Erzählung, die eine Lebensgeschichte (im Gegensatz zu einer Krisengeschichte) darbietet, bedeutet eine Dominanz der Ebene der Geschichte (Lämmert) oder der histoire (Todorov, Genette), die gewissermaßen auf die Ebene der Fabel (Lämmert) oder der des discours (Todorov, Genette) übergreift und so die Möglichkeit einer räumlichen `Ordnung´ausblendet.

    Paradoxerweise trägt die Verzeitlichungstendenz auf Inhaltsebene (Geschichte/ histoire) entscheidend zur Zeitdominanz als Gleichsetzung der Zeitdimension mit der Formebene bei. Die Unterscheidung zwischen Zeitroman (Formebene - traditionell chronologisch verfahrende Erzählung) und Zeit-Roman (Inhaltsebene - Zeit als Gegenstand der Erzählung) wird insbesondere von Genette nicht getroffen, wäre aber für sein Beispiel Prousts À la recherche du temps perdu unbedingt erforderlich, denn die Inhaltsebene (Lebensgeschichte) folgt, indem sie die Erinnerung Marcels als imaginäre Rückkehr in die Räume der Vergangenheit angelegt, keiner zeitlichen Ordnung. Für Müllers und Lämmerts Bezugnahme auf Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre entbehrt sie auf Grund der Kongruenz zwischen Formebene (chronologisch `nach vorne´ erzählter Roman) und Inhaltsebene (Lebensgeschichte Wilhelm Meisters) der Notwendigkeit.


    Lösungsvorschlag: Eine kulturwissenschaftliche Zeit-Raum-Konzeption der wechselseitigen Beeinflussung (Chronotopos) und kulturelle Bedingtheit (Dialogizität)

    Satz I:
    Demgegenüber ist mit Bachtin die Untrennbarkeit von Zeit und Raum zu betonen, wie sie sinnfällig in der Form-Inhalt-Kategorie des Chronotopos zum Ausdruck kommt. Zeit- und Raumdimension wird nicht nur gleichermaßen konstitutive Funktion für die Erzählung zugesprochen, sondern, indem sie die Konstituenten der menschlichen Erfahrung überhaupt darstellen, auch für die Identitätsbildung (Mensch /literarische Figur). Mit anderen Worten: über die Ausprägung der Zeit- und Raumdimensionen in einer Erzählung können Rückschlüsse über die narrative Sinnordnung in Rückkopplung an die kulturhistorischen Bedingungen getroffen werden.

    Satz II:
    Basis der Konzeption Bachtins bildet das dialogische Prinzip, das sich im Sprach- wie im Literaturverständnis wiederspiegelt. Als Ausgangspunkt bestimmen wir mit Todorov (1981) die Auseinandersetzung mit den Werken Dostoevskijs, in denen Bachtin die Polyphonie als ihnen gemeinsames künstlerisches Prinzip herausstellt. In der Begegnung erblickt er nicht nur das Grundmotiv der Literatur, sie ist bereits im kleinsten Element der Sprache, dem Wort, enthalten. Satz II a:
    Bachtin differenziert grundsätzlich zwischen zwei "künstlerischen Sehweisen", die eine entspricht der konventionellen der evolutionären Reihe. Als Beispiel dient der Entwicklungsroman Goethes. Dieses Modell lässt selbst sich widersprechende Ereignisse und Elemente einem einheitlichen Prinzip folgen und organisiert Entwicklung und Vollendung durch Linearität und Kausalität. Davon grenzt Bachtin mit Dostoevskij ein zweites Modell, das der Koexistenz, Gleichzeitigkeit und Wechselwirkung, ab. Im Gegensatz zur Zeitdominanz des Modells der evolutionären Reihe, ist für das zweite die Organisation im Raum fundamental. Beziehungen werden in einem einzigen Augenblick und nicht in ihrer Entwicklung gezeigt. Diese künstlerische Sehweise kennzeichnet daher ein dramatischer Impetus aus. Mit der Herausstellung eines zweiten Erzählmodells mit Dostoevskij erweist sich Bachtin als Fürsprecher einer dialogischen Literatur, die er gegen eine monologische stark zu machen sucht.

    Satz II b:
    Mit der Bezugnahme Bachtins auf die literarische Praxis Dostoevskijs zeigt sich ein Arbeiten gegen die Norm und den klassischen Kanon der Literatur (Unterschied insbesondere zu Lämmert) an, die auch in der Chronotopos-Studie in Form einer umfassenden Literaturauswahl (von der griechischen Antike bis zur Gegenwart) ihren Ausdruck findet. Das Ansetzen an den Rändern und eine breite Literaturbasis lassen Bachtin mit den Einschränkungen, die uns innerhalb der klassischen Erzähltheorie begegnen, brechen. Einerseits ermöglicht Bachtin eine weite diachrone Perspektive, die kulturellen Bedingtheiten insbesondere für Zeit- und Raumverständnis zu erfassen, andererseits geht er mit Dostoevskij das `Ideal´ von Wahrheit, Abgeschlossenheit, Synthese und einer primär in der Zeit generierten Erzählung an.


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