K ulturwissenschaftliches Institut für Europaforschung



    Nina Brodowski (Lüneburg, Mai 200)
    Europa als Semiosphäre

    Während über Jahrzehnte eine wirtschaftliche Vereinigung Europas vorbereitet wurde, scheint es auf der sozio-kulturellen Ebene diesbezüglich noch erheblichen Nachholbedarf zu geben. Denn während dieses Europa international versucht, in wirtschafts- und außenpolitischen Fragen als Einheit aufzutreten, dominiert nach Innen stets die Frage, was diese Einheit denn überhaupt darstellen soll und worauf sie basiert. Dabei wird immer wieder auf eine gemeinsame Kultur verwiesen, ohne allerdings diesen Begriff genauer definieren oder durchleuchten zu können.In den letzten Jahren wird dabei vermehrt auf das „alte“ Europa verwiesen – das Europa in der Tradition der Aufklärung. Das – KULTURELLE – Europa.

    In Ermangelung an einer „Vorstellungsfigur“ für ein zeitgenössisches Europa des 21. Jahrhunderts bedeutet dieses ALTE Europa für viele eine Art letztes Bataillon aller Wert- und Tugendhaftigkeit.In dieser Tendenz der Identitätspolitik findet sich ein wesentliches Problem in der Konzeption und der Suche nach der europäischen Kultur wieder: „Der Europäischen Union fehlen identitätsstiftende Ressourcen" (1). Auf der verzweifelten Suche nach diesen Ressourcen kommt es immer wieder zu verschiedenen Inszenierungen dieser „gemeinsamen“ europäischen Kultur – mal ist die christliche Tradition merkmalhaftes Zeichen, mal die aufgeklärt-bürgerliche, mal die neohumanistische und manchmal der deutsche Barock (und hier verweise ich auf die Berliner Stadtschlossdebatte, die (wie gehört) Thema meiner MA-Arbeit war – und in der der Deutsche Barock - namentlich Andreas Schlüter - als identitätsstiftend für die Berliner Republik verhandelt wird. Was diesen Imaginationen einer europäischen Kultur gemeinsam ist, ist der Rückbezug auf die Tradition und gemeinsame Geschichte als identitätsstiftendes Merkmal. Diese vergangenheitsbezogenen Aussagen bergen jedoch stets die Tendenz der Verkürzung und Mythenbildung. Die europäische Aufklärung als Garant für bürgerliches Wohlbefinden. Die europäische Kulturgeschichte als Differenzmerkmal zum Rest der globalisierten Welt. Die Antike agorá als Kontinuitätsnachweis der europäischen Demokratietradition…

    Was aber, wenn EUROPA eine ganz neue - eine ganz gegenwärtige - Entität darstellt???

    Auf der Konferenz Europa eine Seele geben , die im November 2004 in Berlin stattfand - betonte der Präsident der Europäischen Kommission (José Manuel Barroso) zunächst die Kriege, die die europäischen Staaten gegeneinander geführt und mehr oder weniger „miteinander“ verloren hätten, bevor dann das „wirklich neue Europa – das Heutige –“ entstand. (2) Insofern ist die Europäische Union auch eine Antwort auf Krieg und Zerstörung. Gerhard Schröder zitierte den amerikanischen Soziologen Rifkin, der die Europäische Union als „ersten transnationalen Traum des globalen Zeitalters“ und „ohne jedes historische Vorbild“ bezeichnete: „Nicht Geschichte, Sprache oder Religion würden Europa einzigartig und unterscheidbar machen, sondern normative Ziele, politische Prinzipien und kulturelle Haltungen“. (3) Dabei sei es die große Herausforderung der kommenden Jahrzehnte, zu einer verbindenden europäischen Identität zu gelangen. Das ist nicht past , sondern future -tense. Eine europäische Identität, die sich durch die europäische Aufklärung oder eine europäische Tradition an sich definiert und nicht durch die Umsetzung ihres Erbes in der Gegenwart, misst ihr Ideal lediglichen an der Benennung - der Repräsentation - und nicht an der praktischen Realisierung, nicht an der kulturellen Praxis. Eine europäische Kultur, die sich durch ihre Vergangenheit und nicht durch ihre Gegenwart definiert, ist nicht die heutige - und sie ist nicht unsere….

    Diese Gedanken sind und waren die Ausgangslage für unser Projekt. Europa verstehen wir daher als Semiosphäre im Sinne des estnischen Semiotikers Juri Lotman. Semiosphäre: das ist die Sphäre der kulturellen Bedeutungsgebung. Sie ist gekennzeichnet durch die Gleichzeitigkeit - unterschiedlicher semiotischer Elemente. Wir haben es mit Europa mit einer Sphäre zu tun, die in sich selbst in verschiedene Nationen gespalten ist. In der die Heterogenität und Diversität ihrer Bevölkerung nicht nur kulturell sondern auch sozial deutlich zum Ausdruck kommt. Dieses in der Vielfalt vereinte Europa ist mittlerweile zu einem bedeutungsbestimmenden geworden, der intern jedoch nach wie vor durch heterogene Diskurse, unterschiedliche Vorgeschichten und spannungsgeladene Positionen kultureller sowie sozialer Differenz gekennzeichnet ist.

    Zentral für die Vorstellungsfigur der Semiosphäre ist genau dies: nämlich dass ihre Elemente in einer dynamischen und nicht statischen Korrelation und mit sich ständig wandelnden Begrifflichkeiten stehen. Dabei bestimmt Lotman die Struktur der Semiosphäre als asymmetrisch. Neben der strukturierenden Sprache des Zentrums ist der Bedeutungsraum mit einer Vielzahl von Teilsystemen gefüllt, die stets aufeinander prallen und sich entwickeln, die in einem machtpolitischen Ungleichgewicht zueinander stehen und um Bedeutungshoheit kämpfen. Lotman spricht davon, dass diese Assymetrie der eigentliche und konstitutive Ausgangspunkt für die Bedeutungsproduktion ist – und meint damit durchaus ein innovatives und kreatives Potential. Denn durch die Unterschiedlichkeit der verschiedenen Sprachen und semiotischen Codes und Zeichen entsteht im Prozess der Übersetzung - im kulturellen Dialog - eine Art Verschiebung. Etwas, was dem Derridaschen supplément sehr nahe kommt – eine Verschiebung der „herkömmlichen“ Bedeutung (und ich meine jetzt nicht herkömmlich im Sinne von „ursprünglicher“ Bedeutung, sondern intendierte Bedeutung) – also eine Verschiebung des Bedeutungsgehalts von einer Sprache in die andere, von einem kulturellen Code in den anderen. Diese Neubedeutung durch Übersetzung – quasi der Moment der „Übersetzungsfehlleistung“ - ist der Moment der tatsächlichen Informationsgenerierung im kybernetischen aber auch im Lotmanschen Sinn: – also der Moment, indem tatsächlich NEUE – eben nicht redundante und bereits bekannte Bedeutung – entsteht. Der Dialog erzeugt neue Bedeutungen. Das kulturelle Zeichen, das Mentefakt, das Phänomen, .. als diese Dinge werden nur dann produktiv im bedeutungs-generierenden Sinne, wenn verschiedene Systeme miteinander in Kommunikation treten. Der kulturelle Grenzraum wird dadurch zum produktivsten Bedeutungskontext innerhalb der Semiosphäre. Wobei diese Grenzräume nicht deckungsgleich mit den nationalen oder territorialen Grenzen sind. Sie laufen durch sie hindurch, überlagern sie, und besitzen eine ganz eigene Ordnung.

    Die Sprachen und sprachlichen Zeichen, die den semiotischen Raum füllen, sind unterschiedlich und zahlreich. Und ihre Beziehungen zueinander reichen von totaler Übersetzbarkeit bishin zur kompletten Unübersetzbarkeit der Zeichen. Diese verschiedenen Verhältnisse bestehen – und das ist ebenfalls ein Merkmal der Semiosphäre – in der Gleichzeitigkeit. Das heißt: es bestehen zum gleichen Zeitpunkt verschiedene Geschichten, Erzählungen und kulturelle Bedeutungen von Europas.Das bedeutet aber vor allem auch, dass in diesem Europa gleiche Bedeutungen und Vorstellungen für verschiedene – und verschiedene Bedeutungen und Vorstellungen für gleiche – Zeichen existieren. Daher gilt es auch, das Augenmerk zunächst auf eben diese kulturellen ZEICHEN zu richten, sie zu lesen und über sie zu sprechen, über sie zu Merkmalen europäischer Kultur und zu Vorstellungen von europäischer Identität zu gelangen. Und erst diese kommunizierten Vorstellungsformen geben dann den Zugang zu den tatsächlichen Aspekten der gegenwärtiger europäischen Kultur. Im Gegensatz zu der - meist in der Vergangenheit und nach abstrakten Kriterien suchenden - Frage nach dem Kern europäischer Identität oder dem Wesen der europäischen Kultur, gilt es vielmehr zu untersuchen, was europäische Kultur in der Gegenwart kennzeichnet und eventuell verbindet.

    Die Fragen, „was ist europäische Kultur“ – „was sind die jeweiligen Besonderheiten“ und „was eventuelle Gemeinsamkeiten europäischer Kulturen“ – diese Fragen sind solange nicht jenseits von rhetorischen Einheits- oder Abgrenzungsbeschwörung zu beantworten, solange ein gemeinsamer Erfahrungsraum fehlt und diese Fragen nicht ins Hier und Jetzt zurückgeholt werden. Vielleicht müssen sie sogar in FUTURA gestellt werden: Was soll Europa einmal sein? Und wo wollen wir hin? Die Frage nach einer möglichen europäischen Identität darf dabei nicht entlang der Grenzen Europas und allein „in Abgrenzung zu“ debattiert werden, sondern bedarf einer Vertiefung der Fragestellung und Austausch darüber im Inneren Europas.

    Europa als Semiosphäre ist dabei, eine Selbstbezeichnung zu formieren, die eine zeitliche Achse von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und eine räumliche Achse von Innen und Außen etabliert. Hierin besteht die Tendenz des Ausschlusses und einer idealisierten kulturellen Erzählung. Diese Tendenz ist geneigt, Einheitlichkeit zu behaupten und das Recht zu beanspruchen, für eine gesamte Kultur zu sprechen. Diesen Bewegungen und strukturellen Merkmalen einer Semiosphäre müssen wir uns in der kulturwissenschaftlichen Betrachtung Europas immer bewußt sein, um vor Euphemismen und allzu schmeichelnden Definitionen Europas gefeit zu sein. So versucht das Projekt „Europas Kapitale“ nicht eine erneute „Self-description“ zu etablieren, sondern vielmehr das vorhandene Bewusstsein zu vertiefen , die Asymetrien zu erfassen, den Dialog zu führen, die Grenzräume zu erfahren und die Zeichen zu suchen… Es versucht voranzutreiben, was oft so emphatisch angerufen wird: nämlich eine europäische Öffentlichkeit nicht nur zu beschwören, sondern durch kritischen und wissenschaftlichen Austausch mit Inhalten und Begegnungen zu füllen. Nach einer europäischen Kultur zu fragen und Ausschau zuhalten, ohne dabei das von Sloterdyjk benannte Improvisationstheater weiter zu bedienen. Es geht dabei nicht um die Benennung oder Definition, sondern die Produktion von Europa.

    (1) http://www.bpb.de/themen/7H1KYQ,,0,Deutschland_in_Europa.html, 12.01.06.

    (2) José M. Barroso, EUROPA EINE SEELE GEBEN. Berliner Konferenz für europäische Kulturpolitik, 26.-27.11.2004 , in: Dokumentation. Filmausschnitte und Textdokumente der Konferenz, DVD, Berlin, 2005.

    (3)Gerhard Schröder, ebd.

     


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