K ulturwissenschaftliches Institut für Europaforschung



    Nina Brodowski (Lüneburg, Februar 2004)
    Ge(Steins)schichten: von nationalen Mythen und urbanen Erzählungen

    Das grundlegende Paradigma der Kulturwissenschaften ist es, kulturelle Phänomene und Praktiken als "symbolische Ausdrucksformen" (Ernst Cassirer) zu verstehen und zu untersuchen. Dabei gilt es nicht nur zu hinterfragen, wie Bedeutungen in der Sphäre der Kultur generiert werden, sondern auch wie Bedeutungssysteme dort ihre Stabilität erlangen und welche Funktionen sie dabei ausführen. Im Bezug auf politische Gesellschaftsformationen stellt sich aus kulturwissenschaftlicher Sicht die Frage, welche mythisch-rituellen Mechanismen ihrer jeweiligen Legitimation zu Grunde liegen und auf welche symbolischen Formierungen sie sich beziehen.
    Roland Barthes Auseinandersetzung mit den "Mythen des Alltags" (Roland Barthes) bietet die Möglichkeit, Funktion und Wesen gesellschaftlicher und politischer Mythen zu begreifen und zu analysieren. Dabei versteht Barthes jede Form des Mythos zunächst als Aussage. Es handelt sich um diskursiv hergestellte Sinnzusammenhänge, die einem Objekt, einer Praxis oder einem Zeichen eine zusätzliche Weise des Bedeutens hinzufügen. Roland Barthes bestimmt die wesentlichste Funktion des Mythos als Naturalisierung und Entpolitisierung kontingenter aber historischer Sinnzusammenhänge.
    Wenn wir weiterhin davon ausgehen, dass der menschliche Raum immer signifikant gewesen ist, lassen sich architektonische Objekte und städtische Elemente in mythische Bedeutungsträger kollektiver Vorstellung umwandeln. Die Debatte um die Rekonstruktion der Historischen Mitte Berlins und hier speziell die des Berliner Stadtschlosses ist vor diesem Hintergrund als Bedeutungsträger zu verstehen, der uns Aufschlussreiches über das Selbstverständnis unserer Gesellschaft und Nation zum Entziffern bereithält; denn in dieser Debatte materialisieren sich spezifische Bedeutungen und Wissensformierungen. Das Schloss als Signifikant wird als kulturgeschichtlich relevantes Erbe aus dem Bereich des Politischen entrückt - gleichzeitig aber durch diskursive Äußerungen in den Kontext nationaler Identität gestellt und zum Zeichen einer homogenen und linearen Geschichte umfunktioniert.
    Im Kontext der Wiedervereinigung Deutschlands erhält diese Verhandlung um das national-kulturelle Erbe noch eine andere Bedeutung. Denn der Errichtung des Schlosses liegt die Entscheidung zum Abriss des 1976 in der DDR fertig gestellten Palasts der Republik zu Grunde. Die Rekonstruktion des Stadtschlosses wird so zu einer Projektionsfläche, die die vergangene DDR-Geschichte in einen Mythos überführt. Signifikant wäre in diesem Fall nicht die Anwesenheit des Schlosses, sondern die Abwesenheit des Palasts. Seine "Zensur" transformiert ihn zu einem positiven Identifikationsobjekt, das die imaginäre Gemeinschaft der Ostdeutschen erst produziert und gleichzeitig die Erinnerungen an die DDR konserviert. So finden wir in diesem Mythos einerseits eine Fetischisierung nationalen Kulturerbes, andererseits die Romantisierung einer vergangenen Lebenswelt.
    Auf beiden Seiten unseres Zeichens stehen mythische Verklärungen und die Sehnsucht nach einer authentischen Identität. Nach Stuart Hall ist die Stärkung lokaler Identitäten kein zufälliges Phänomen, sondern in dieser Zeit eine Strömung, in der nationale aber auch partikularisierte Identitäten in Gegenreaktion zur Globalisierung zunehmend angerufen und gestärkt werden. Vor dem Hintergrund der europäischen Entwicklung und dem Beitritt osteuropäischer Staaten in die Europäische Union stellt sich also zunehmend die Frage, wie man mit dem Wegfall bekannter Formen und der Erschütterung alter Grenzen umzugehen hat, um ihrer Transformation in politisch-nationale Mythen entgegenzuwirken. Gerade die kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit auf den ersten Blick politisch unmotiviert erscheinenden Objekten und Phänomenen ermöglicht eine Analyse politischer Mythen, die in der kulturellen Sphäre generiert werden.


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